Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot tritt leidenschaftlich für die Idee eines gemeinwohlorientierten Europas und die Selbstverantwortung der Menschen ein. Auch in der Corona-Krise.
Es ist einer der letzten sonnigen Spätsommertage in einem Café in Berlin-Schöneberg. Ulrike Guérot verspätet sich ein paar Minuten. Sie kommt mit dem Fahrrad, steigt ein bisschen abgehetzt vom Sattel, entschuldigt sich. Sie sei mitten im Umzug, ziehe von Berlin nach Bonn, erzählt sie im Gespräch mit FORUM. Zum Wintersemester tritt Ulrike Guérot eine neue Stelle an. Sie ist jetzt Professorin für Europapolitik und Co-Direktorin des Centre Ernst Robert Curtius an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität. Davor war die gebürtige Grevenbroicherin mehrere Jahre Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems in Österreich. „Ich bin Politologin mit einem besonderen Interesse an Europa, politischer Theorie und der Zukunft der Demokratie." So beschreibt sie sich selbst auf ihrer Homepage. Tatsächlich ist die 57-jährige Intellektuelle medial bekannt und äußerst diskussionsfreudig. Ulrike Guérot ist eine vielgefragte Gesprächspartnerin in Talkshows und in Radiosendungen. Ganz aktuell ist sie in der Interviewreihe #allesaufdentisch zu sehen. Dort diskutiert sie mit der Schauspielerin Nina Proll die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf die Demokratie.
Sprecher und Argument voneinander trennen
Wie debattierfreudig Ulrike Guérot ist, zeigt sich auch im persönlichen Treffen mit ihr. Sie bestellt sich nach ihrer Ankunft im Café schnell einen Kaffee und Quark mit Früchten. Dann sprudelt sie los. Erzählt, wie viel Zuspruch sie in den vergangenen 18 Monaten bekommen hat. Auf der einen Seite. Und welche Wellen von Kritik bis Feindseligkeit ihr auf der anderen Seite entgegenschwappen. „Meine Mailbox ist durch die Decke gegangen", sagt sie und nimmt einen Schluck Kaffee. Nach jeder Talkshow, in der sie gewesen ist, habe sie „Hunderte E-Mails" erhalten. Haupttenor der Nachrichten: „Sie sprechen mir aus der Seele. Bitte machen Sie weiter". Auch der türkische Besitzer des Cafés, in dem das Gespräch stattfindet, gehört zu ihren Befürwortern. „Sie lieben sie so", gestand er ihr eines Tages, als sie sich wieder einmal einen Coffee to go bei ihm holte. Dann erklärte er, dass seine ganze Familie sich „alle Clips" von ihr anschaue: „Wir sind Fans von Ihnen." Jetzt bekommt sie dort jedes Mal einen Kaffee frei Haus. Dem gegenüber stehen all diejenigen, die nicht einverstanden sind mit ihrer Kritik an den staatlich verordneten Corona-Maßnahmen. Das reicht von zerbrochenen Freundschaften bis hin zu einer Rufmorddrohung, die sie kürzlich anonym per E-Mail erhielt. Besonders getroffen habe sie die E-Mail eines guten Freundes von der „Süddeutschen Zeitung": „Ulrike, jetzt komm doch mal aus deinem Kaninchenbau raus", schrieb er ihr. Daraufhin habe sie ihm vier Seiten lang zurückgeschrieben. Die Korrespondenz „ging viermal hin und her, und dann war aus die Maus, kein Gespräch mehr". Das habe sie sehr verletzt, „vor allem das Wording ‚Kaninchenbau‘". Andere hätten sie als „rechts" oder zu den „Querdenkern" zugehörig eingeordnet.
Dabei distanziert sie sich klar von der „Querdenken"-Bewegung. Einmal habe man sie als Rednerin für eine Demonstration dabeihaben wollen. Sie lehnte ab. Sie sagt, dass die Debatte sehr „vermint" ist. Die Diskussionen um die Anti-Corona-Maßnahmen werden schnell hoch emotional, eskalieren und führen immer wieder zu zu Polarisierungen, in denen Meinungsnuancen dazwischen nicht mehr existent zu sein scheinen. Das ist für Ulrike Guérot schade, weil sie als passionierte Diskutantin doch eine Befürworterin von offenen Debattenräumen ist: „Aus einem schlechten Mund kann auch mal was Gutes kommen, und aus einem guten Schlechtes", sagt sie. In einer funktionierenden Demokratie müsse man Sprecher und Argument trennen, so ihre Prämisse. Doch diese Trennung habe in den Diskussionen rund um Corona ihrer Ansicht nach nicht mehr stattgefunden. Ihr Plädoyer sei, dass es Raum für legitime Kritik geben müsse. Ihr missfällt auch „der Begriff des Faktencheckens", nach dem Motto, dass es nur „eine Wahrheit und sonst keine" gebe. „Der Begriff des Faktencheckers ist schon ein totalitärer Anspruch", so die Politologin. Er negiere die europäische Geisteswissenschaft, die sage: „Es gibt eine Wahrheit und fünf Perspektiven, und diese fünf Perspektiven müssen gehört werden". Sie bricht das herunter auf ein alltägliches Beispiel: „Jeder Polizist weiß, wenn es einen Unfall gegeben und er fünf Zeugen befragt hat, dass es fünf unterschiedliche Aussagen gibt, und der Polizist muss eine Schnittmenge daraus bilden." Diese mentale Offenheit wünscht sie sich auch gegenüber wissenschaftlichen Einschätzungen. Schließlich gebe es auch unter Virologen unterschiedliche Ansichten. Gleichzeitig grenzt sich die Professorin von umstrittenen Plattformen wie etwa „Ken FM" ab, ebenso wie von „Verschwörungserzählungen, Bill Gates und so weiter". All diese Theorien seien ihr „zu wüst und viel zu komplex". Und: „Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass wir ein tückisches Virus haben und dass wir mit dem Virus werden umgehen müssen." Sie stellt ihre Fragen anders: Muss oder soll man „einem tückischen Virus noch ein politisches System" hinterherwerfen? Damit landet sie wieder bei ihrer Kritik an den Maßnahmen, vor der sie auch in Talkshows mit Karl Lauterbach und Co kein Blatt vor den Mund nimmt. „Wir werden behandelt wie kleine Kinder – bis hin zu diesem Klebestreifen, damit 1 Meter 50 auch 1 Meter 50 ist, so als wüssten wir nicht selbst, den Abstand richtig einzuschätzen." Als seien Menschen „eine Schafherde, die da irgendwie durchgelost werden muss". Das seien „entmündigende und infantilisierende Formen des paternalistischen Staates", so ihre Kritik. Sie sagt, sie werde oft gefragt, was denn die Alternative zu den Maßnahmen sei. Ob sie denn alles laufen lassen wolle. „Nein", so die Politologin und bestellt sich einen Kräutertee. „Die Alternative ist Selbstverantwortung, keine Panik verbreiten, ein bisschen raus aus der Hysterie, weg von Panikgenerierung, rein ins Risikomanagement anstatt kategorischer Risikovermeidung." Ihrer Ansicht nach sollten die politisch Verantwortlichen „unter Einhaltung des Grundgesetzes" alles in die Wege leiten, um „so viele Leben zu retten, wie es geht". Dabei dürfen keine Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, der Zweck heiligt nicht die Mittel, denn so Guérots Leitsatz: „Der Staat darf nicht schädigen."
Europa hängt an einem sehr dünnen Faden
Schon seit Längerem schwebt ihr die Idee einer europäischen Republik vor, in der alle Bürger die gleichen politischen Rechte haben. Die Ausführungen zu dieser politischen Utopie hat sie in ihrem 2016 erschienenen Buch „Warum Europa eine Republik werden muss" beschrieben. Dort tritt sie für die Idee eines solidarischen, gemeinwohlorientierten Europas ein. Als passionierte Europäerin ist sie auch bei Kundgebungen von „Pulse of Europe" aufgetreten, der europafreundlichen Bürgerbewegung und hat in Berlin den Thinktank „European Democracy Lab" gegründet. Jetzt, fünf Jahre nachdem ihr Europa-Buch erschienen ist, sieht sie den Kontinent „an einem dünnen Faden" hängen: „Europa ist fragilisiert, Brexit obendrauf, Polen, Ungarn, ein bisschen Katalanien oder sehen Sie sich an, was in Österreich los ist." Man spürt ihre Sorge um Europa und sein demokratisches Erbe. Auch, was die Unruhen in Frankreich betreffen. Jenem Nachbarland, in dem sie als junge Frau zunächst ein Au-Pair-Jahr gemacht und später ihren damaligen Mann, einen französischen Diplomaten, kennengelernt hat. Seit nunmehr drei Monaten gehen die Franzosen auf die Straße, auch wenn die Zahlen derzeit rückläufig sind. Unterstützung bekommen sie dabei von den „Gelbwesten". Die Gründe für die anhaltenden Proteste sind vielschichtig: Es geht zum einen um den Unmut gegen den „pass sanitaire" und gegen die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen. Doch „das wirkliche Problem Frankreichs ist", so Ulrike Guérot, „die wirtschaftliche Lage und, einhergehend damit, die soziale Krise". Ein französischer Freund von ihr äußerte neulich, dass er Schlimmstes für sein Land befürchtet. „Ich halte die Lage in Frankreich für die problematischste auf dem ganzen Kontinent, und keiner guckt hin", meint sie. Sie nippt noch schnell am gerade servierten Kräutertee und muss dann wieder los.