Die gesetzliche Rentenversicherung ist alles andere als sicher. Das sagt Rentenexperte Bernd Raffelhüschen. Denn auf viel mehr Ruheständler in Zukunft kommen immer weniger Beitragszahler.
Glaubt man der Politik, ist die gesetzliche Rente sicher. Glaubt man den Wissenschaftlern, ist sie unsicherer denn je. Das sagt zumindest einer der wohl renommiertesten Fachleute für Finanz- und Sozialpolitik in Deutschland, Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen. Im kommenden Jahr können sich Rentner auf eine Erhöhung der Bezüge freuen, auch im darauffolgenden Jahr. Danach plant die gesetzliche Rentenversicherung wieder Nullrunden, so die Deutsche Rentenversicherung (DRV) in Berlin.
Die Faktenlage sei dabei eindeutig, so Raffelhüschen: Die Menschen werden statistisch gesehen immer älter und beziehen länger Rente, die geburtenstarken 60er-Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer, gehen in naher Zukunft verstärkt in Rente. Gleichzeitig werden die Beitragszahler immer weniger, schon aufgrund des demografischen Wandels. Im Durchschnitt arbeiten die Menschen nur bis 61 trotz des gesetzlichen Rentenalters in Deutschland von 67 Jahren, die staatlichen Zuschüsse in die Rentenversicherung aus Steuermitteln betragen bereits heute rund 100 Milliarden Euro, Tendenz steigend. Kamen in den 60er Jahren auf einen Rentner vier Beitragszahler, sind es heute zwei. In Zukunft „versorgt" jeder Beitragszahler seinen eigenen Rentner. Dabei soll laut dem politischen Willen der Bundesregierung das Rentenniveau nicht weiter sinken und die Beiträge nicht weiter steigen. Dass diese Rechnung nicht aufgehe, könne man an fünf Fingern abzählen, erklärt Raffelhüschen die aus seiner Sicht aussichtslose Lage bei der gesetzlichen Rentenversicherung.
Demografie und Babyboomer
Für dieses Jahr werden die Einnahmen der Rentenkasse auf 341,1 Milliarden Euro geschätzt. Davon entfallen gut 76 Prozent auf Beiträge und 23 Prozent auf Bundeszuschüsse. Nimmt man alle Bundesmittel hinzu, wie etwa für die Überführung von DDR-Versorgungssystemen ,beliefen sich die Ausgaben des Bundes aus dem entsprechenden Haushaltsplan auf rund 109 Milliarden Euro. Grob gerechnet werden die Kosten für die Rentenerhöhung 2022 auf rund 17 Milliarden Euro taxiert. In diesem Jahr werden die Ausgaben der Rentenkasse insgesamt auf 341,6 Milliarden Euro geschätzt – davon fast 87 Prozent für Renten und sieben Prozent für die Krankenversicherung der Rentner. Langfristig kommen laut DRV zufolge mehr Rentner auf 100 Beitragszahler, weil die Babyboomerjahrgänge in Rente gehen. „Deshalb wird der Beitragssatz steigen müssen", so Anja Piel vom Vorstand der DRV. Bis 2023 soll es bei 18,6 Prozent bleiben. Bis 2035 soll er auf 22,3 Prozent steigen. Das Rentenniveau, das das Verhältnis von Renten zu Löhnen zeigt, beträgt derzeit 49,4 Prozent und soll bis 2025 auf 49,2 Prozent und bis 2035 den jetzigen Schätzungen zufolge auf 45,7 Prozent absinken.
„Die Politik hätte schon in den 80er Jahren die Weichen stellen können und müssen, aber sie hat nicht auf uns Wissenschaftler gehört", so der Finanzprofessor aus Freiburg. „Wir können heute nur noch an der Verteilung der Renten etwas machen, es sei denn, die Jüngeren würden immer weiter steigende Beitragssätze klaglos hinnehmen, wovon nicht auszugehen ist. Die Menschen, die in den nächsten Jahren in Rente gehen, haben zu wenig Kinder gezeugt und können dieses Manko nicht einfach auf die nachfolgende Generation abwälzen."
Im Rückblick habe die Politik mit der Agenda 2010 unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder zwar den richtigen Weg eingeschlagen und einen so genannten Nachhaltigkeitsfaktor für die künftigen Renten eingeführt: Schrittweise Einführung von längeren Arbeitszeiten bis 67, Anpassung des Rentenniveaus nach unten und Stabilisierung der Beitragssätze bei zirka 20 Prozent, also faktisch eine Rentenkürzung. Allerdings sei diese generationenübergreifend gerecht und solidarisch, denn warum sollten die jüngeren Generationen für die Rente wesentlich mehr bezahlen als die Älteren? Es kann nur das verteilt werden, was da ist. Das Fatale: die Arbeitsminister Scholz, Nahles und Heil in den Großen Koalitionen der Ära Merkel hätten die Weichen zurückgestellt und den Nachhaltigkeitsfaktor bis 2025 ausgesetzt – mit fatalen Folgen für die Finanzierung des gesetzlichen Rentensystems. Der eigentlich faire Generationenvertrag, der bereits auf gutem Wege schien, sei auf diese Weise arg ins Ungleichgewicht gekommen. Die vielen Wahlversprechen wie Rente mit 63, Grundrente, Mütterrente sowie die Finanzierung der Ostrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung hätten die Situation nur noch weiter verschärft, so Raffelhüschen, auch wenn die gestiegene Frauenerwerbsquote dem Rentensystem vorübergehend ein wenig Luft zum Atmen verschafft habe. Die SPD hätte letztendlich den politischen Preis in Form von Wahlniederlagen für die Agenda 2010 gezahlt und alleine deshalb die Schraube zurückgedreht. Profitiert habe Deutschland von den positiven Auswirkungen der Agenda 2010 mit mehr Wachstum und Beschäftigung sowie dem Abbau von Staatsschulden bis zum Beginn der Corona-Krise. „Aber darüber redet kaum jemand in diesem Land", betont Raffelhüschen.
Vor dem Hintergrund des wachsenden Finanzdrucks auf die Rente plädierte Arbeitgebervertreter Alexander Gunkel dafür, einen vor wenigen Jahre gestrichenen Anpassungsmechanismus wieder in Kraft zu setzen. „Die Renten sollten nicht stärker steigen als die Löhne", sagte Gunkel. Im laufenden Jahr hätten die Renten rechnerisch in der Krise eigentlich sinken müssen. Doch Kürzungen sind gesetzlich ausgeschlossen. Das sei in Ordnung, so Gunkel. Aber dieser Schutz sollte im darauffolgenden Jahr angerechnet und die Rentenanpassung folglich gedämpft werden, meinte er. Das gesetzliche Mindestrentenniveau von 48 Prozent wäre dann immer noch gewahrt. „Und das würde die langfristige Finanzierung erleichtern", so Gunkel.
Positive Wirkung der Agenda 2010
Von der verpflichtenden Einbeziehung von Beamten und Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung hält Raffelhüschen übrigens nicht viel, da das Grundproblem einer umlagefinanzierten Rente hin zur Kapitaldeckung damit nicht gelöst würde. Auch die nunmehr vorgesehene Einführung einer kapitalgedeckten Rentenversicherung mit lediglich 10 Milliarden Euro, wie es die mögliche Ampelkoalition plant, würden an der finanziellen Schieflage nichts Entscheidendes ändern, zumal die Kapitaldeckung in Deutschland so gut wie nur mit emittierten Staatsanleihen finanziert würde und nicht am freien Kapitalmarkt wie es beispielsweise die skandinavischen Länder machen. „Bei den milliardenschweren Ausgaben der Rentenversicherung und der zunehmenden Staatsverschuldung sind 10 Milliarden Euro nur ein Tropfen auf den heißen Stein."
Selbst die Zuwanderung reiche nicht aus, um die demografische Lücke, sprich mehr Beitragszahler, zu schließen. Laut Statistik sind es rund 250.000 Zuwanderer pro Jahr, wobei mehr als die Hälfte von ihnen in den Sozialsystemen und nicht im integrierten Arbeitsmarkt landet. „Deutschland hat eine unqualifizierte Zuwanderung und eine hochqualifizierte Abwanderung von Arbeitskräften", bringt Raffelhüschen die Lage auf den Punkt. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die jüngere Generation kaum für das komplexe Thema Rente interessiert, sondern sich eher für Themen wie Klimawandel engagiert und dafür auf die Straße zum Demonstrieren geht. „Wir sind immer wieder erstaunt, wie wenig das Rententhema die Jüngeren interessiert, obwohl wir an Schulen, Universitäten oder auch die jungen Abgeordneten informieren."
Raffelhüschens eindringlicher Appell an die Politik lautet: Es ist fünf Minuten nach zwölf, für die jetzt anstehende Rentengeneration könne nichts mehr Entscheidendes gemacht werden, aber für die jüngere Generation müsse nun gehandelt werden, damit sie in 30 Jahren vom Rentensystem noch etwas habe.