Ob Einsamkeit, Angst, oder Stress in Familie, Partnerschaft oder Job – bei der Initiative „Redezeit für dich" unterstützen Coaches und Therapeuten Menschen per Telefon bei unterschiedlichen Fragestellungen. Geschäftsführer Florian Schleinig im Interview.
Herr Schleinig, was war Ihre Motivation, als Sie „Redezeit für dich" im ersten Lockdown 2020 mitbegründet haben?
Ursprünglich war es als eigener Impuls gedacht, in dieser Krise etwas zu tun. Mittlerweile haben wir über 300 Therapeuten und Coaches, die ehrenamtlich Redezeit anbieten. Wir wollten jedem die Möglichkeit geben, schnell Hilfe zu bekommen und mit jemandem zu sprechen.
Sie haben zwei Angebote auf Ihrer Plattform. Was sind die Unterschiede zwischen „Redezeit für dich" und „Redezeit für Familien"?
Es gibt keine. Wir versuchen kommunikativ, die Menschen auf dem einfachsten und zielgerichtesten Weg zu erreichen. Deshalb münden beide Angebote auf derselben Plattform. „Zeit für Familie" hat sich erst Februar, März dieses Jahres entwickelt. Damit wollen wir gerade Familien unterstützen, die sehr unter Corona und der Pandemie leiden oder gelitten haben.
Wie funktioniert das? So wie bei der Telefonseelsorge, indem ich einfach zum Handy greife und anrufe?
Der Erstkontakt läuft per E-Mail, um einen Termin auszumachen. Das läuft anders als bei der Telefonseelsorge. Wir wollen sichtbar machen, mit wem man spricht. Der eine passt mehr, der andere passt weniger, je nach Thema.
Wie lange dauert so ein Video-Gespräch oder Telefonat normalerweise?
Wir haben eine Mindestvorgabe von 15 bis 30 Minuten. Meistens geht es darüber hinaus. Jeder der Zuhörer hat eine Ausbildung, entweder als Therapeut, Coach oder Psychologe. Jeder weiß, wie er das aktive Zuhören gestalten kann. Auch bei akuten Fällen bis hin zu Depressionen oder suizidalen Gedanken haben sie eine Ausbildung, damit umzugehen.
Kommen diese Fälle öfter vor?
Nein, das kommt nicht oft vor.
Was sind die häufigsten Anliegen der Menschen?
Wir haben kein Tracking, können aber aufgrund unserer Filter sehen, welche Themen am meisten angeklickt werden: Das sind Themen wie Partnerschaft, Hilfe für Familie, für Paare oder Eltern. Oder Themen rund um Job und Arbeit. Es sind sehr viele Alltagsthemen. Gerade die Familien stehen sehr unter Spannung, abgesehen von Corona. Weil zum Teil viele Eltern noch im Homeoffice arbeiten. Das führt zu angespannten Familienverhältnissen. Aber auch ohne Kinder gab es Probleme, zum Beispiel bei Paaren im Homeoffice, die es nicht gewohnt waren, über einen so langen Zeitraum sich die Wohnung als Büro zu teilen.
Wer nimmt Ihr Angebot in Anspruch?
Es sind Menschen, die bestimmte Themen haben: Hilflosigkeit, Angst, Trauer, Stress oder Überforderung. In jedem Lebensbereich gibt es Menschen, die jemanden brauchen, der mal aus der Distanz auf das Thema schaut. Wir alle wissen, dass wir über intime Sachen mit Freunden oder Familie reden. Es gibt auch Themen, bei denen die Meinung von Freunden und Familie sehr gefärbt ist. Dann ist es gut, auch mit jemanden zu sprechen, der einen nicht kennt, der eine ganz andere Perspektive hat. Das ist für jedermann und jede Frau eine Anlaufstelle.
Gab es in den vergangenen Monaten weniger Bedarf an Ihrem Angebot, nachdem die Lockdowns vorbei waren?
Man muss das saisonal betrachten. Unsere Erfahrung ist, dass die Anfragen wieder steigen. Wenn die Tage dunkel sind, ist das Gemüt ganz anders gestrickt. Entsprechend wiegen die Themen auch schwerer als im Sommer. Unser Purpose hat sich seit 2020 auch weiterentwickelt. Wir haben für uns mentale Gesundheit zur Mission gemacht. Wir wollen die Menschen dazu bewegen, über ihre Belastung und ihre Grenzen zu reden und sie sichtbar zu machen. Das Thema psychische Gesundheit ist nicht neu. Doch es ist durch Corona in ein anderes Licht gerückt. Es ist relevanter geworden, auch was psychische Belastung etwa am Arbeitsplatz betrifft. Wenn sie vorher schon stark war, ist sie nicht weniger geworden, nur weil wir ins Homeoffice gegangen sind.
Gab es Phasen, in denen die Nachfrage sehr groß war?
Zu Beginn der Lockdowns, gerade zu Beginn des zweiten und dritten Lockdowns. In diesen Phasen war die Nachfrage enorm hoch. Es gibt Zeiten, in denen viel Unsicherheit besteht.
Wird zu wenig geredet innerhalb von Familie und Partnerschaft?
Das kann ich so pauschal nicht sagen, weil ich keine Statistiken dazu kenne. Ich selbst rede sehr viel, auch mit meinem Kind. Es gibt sicherlich einige Familien, da ist es schwieriger. Da bekommen Kinder weniger Aufmerksamkeit, weil viel mehr gearbeitet wird. Oder weil ein Elternteil sehr belastet ist, weil es alleinerziehend ist. Ich kann mir vorstellen, aber das ist nur meine Hypothese, dass, wenn Familien lange aufeinandersitzen und das nicht gewohnt sind, dass dadurch viel mehr Konflikte entstehen. Die meisten Familienstreitigkeiten entstehen ja üblicherweise im Urlaub.
Was fehlt den Familien in ihrer Kommunikation? Der Blick von außen vielleicht?
Was wir unseren Zuhörern bieten, ist eine Distanz. Das klingt im ersten Moment sehr negativ. Aber eine gewisse notwendige Distanz in Form eines Blickes auf ein Thema bietet immer wieder die Möglichkeit, einen ganz anderen Handlungsspielraum für sich zu entwickeln. Wenn Sie über ein bestimmtes Problem reden, nachdem Sie eine Frage gestellt bekommen, die im ersten Moment relativ einfach klingt. Während Sie das Problem mit anderen Worten erklären, merken Sie plötzlich, dass etwas arbeitet in Ihrem Kopf. Wenn Fragen gestellt werden, die Sie einem Familienmitglied übelnehmen würden, die Sie aber jemand anderem, der Ihnen weniger nahesteht, weniger übelnehmen. Weil es vielleicht reine Nachfrage ist, weil der andere Sie nicht kennt. Das bietet die Möglichkeit, einem neuen Blick auf Dinge zu werfen. Wenn man sie neu erklärt. Meistens geht es um Impulse, weil Problemlösungen einen Prozess darstellen.
Was macht denn überhaupt ein gutes Gespräch aus, in dem man gemeinsam nach einer Problemlösung sucht?
Es ist ganz wichtig zu versuchen, nicht im Kind- oder Eltern-Ich zu landen, sondern im Erwachsenen-Ich. Das bedeutet, eine neutrale Position zu erhalten und Abstand von persönlichen Angriffen zu nehmen. Versuchen, in die Schuhe des anderen zu steigen, Verständnis aufzubringen. Das heißt nicht, dem anderen zuzustimmen, sondern Raum für andere Haltungen zu bieten. Das ist sehr schwer, aber man sollte es mal probiert haben. Einfach weil man merkt, dass Dinge aus einem ganz anderen Blickwinkel sich nicht so schlimm darstellen, wie man sie vielleicht aufgefasst hätte. Das ist stark gekoppelt an Rückfragen. Wenn man etwas nicht verstanden hat, sollte man fragen. Weil fragen bedeutet, dass der andere die Möglichkeit bekommt, Dinge noch mal neu zu erklären — mit anderen Worten: verständlicher zu erklären. Und damit die Sender-Empfänger-Störung so weit wie möglich zu verringern. Lieber einmal mehr rückfragen als einmal zu wenig und einer Verkettung von Missverständnissen ihren Lauf zu lassen. Letztendlich kann man damit viel Kummer und Konflikte vermeiden. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ein gutes Gespräch sollte immer wieder Fragen und Rückfragen beinhalten als auch ein gegenseitiges Verständnis.
Haben Sie einen Rat für Menschen, die sich sehr belastet fühlen?
Ja: Reden hilft. Wir haben die Angewohnheit, unsere Probleme mit uns selbst auszumachen, weil wir glauben, das Thema kann niemand anderes verstehen. Allein den Mut zu haben, Dinge, die man in seinem Kopf hat, versuchen für andere zu formulieren, hilft schon im ersten Schritt, Verständnis für sich selbst aufzubringen. Und vielleicht auch Dinge plötzlich aus einer anderen Perspektive zu sehen. Das kann oftmals helfen, dass ein Knoten im Kopf gelöst wird. Das kennt man ja: Meine Gedanken lassen mich nicht in Ruhe, und ich schwirre im Synapsenfasching. Wenn man dann versucht, das Ganze zu ordnen, und das tut man zwangsläufig, wenn man anfängt, Dinge zu formulieren, dann entdeckt man vielleicht, dass sich Manches ganz anders darstellt und nicht mehr unlösbar ist. Das wäre mein Rat. Aber Rat kann man nicht sagen. Ich würde eher sagen: Tipp. „Rat" klingt immer so weisheitlich oder wissend. Und das bin ich nicht, das ist nur meine Perspektive.