Bedrohung oder Chance? Jeder Wandel hat zwei Gesichter. Kulturanthropologin Barbara Krug-Richter sieht derzeit einen breiten Wunsch nach Veränderung, nach einer anderen Form von Gesellschaft, und sie ist überzeugt: „Die wird nicht schlechter."
Frau Krug-Richter, wieviel Lust haben Menschen auf Veränderung?
Das ist sehr unterschiedlich zu beantworten. Ich bin ja Kulturwissenschaftlerin mit einer historischen Perspektive und würde deshalb schon sagen, dass Menschen Veränderungen vertragen, ob sie ‚Lust‘ darauf haben, ist eine andere Frage. Gesellschaften sind kulturell nicht konstant. In unserer westlich-europäisch geprägten Gesellschaft hat sich im 20. Jahrhundert sehr viel verändert. Aktuell gibt es sicherlich starke Unterschiede, was den Wunsch nach Veränderungen, etwa zwischen den jüngeren und den älteren Generationen betrifft. Aber wenn man sich insgesamt die politischen und gesellschaftlichen Debatten anschaut, die sich um notwendige Transformationsprozesse drehen, sowohl um gesellschaftliche und soziale als auch ökologische, dann ist das Gros der Bevölkerung unzufrieden mit der politischen Zauderei. Die meisten Menschen wollen inzwischen eine möglichst intakte Natur, dafür müssen wir uns an diese anpassen –
und nicht umgekehrt. Dass junge Leute, meiner Meinung zu Recht, dabei ungeduldig sind, konnte man an dieser unglaublich erfolgreichen Geschichte von ‚Fridays for Future‘ sehen. Die ist ja nur von Corona ausgebremst worden. Wenn man sieht, dass aus einem einzelnen Schulstreik von Greta Thunberg eine globale Bewegung geworden ist, nicht nur von jungen Leuten, sondern auch von Parents for Future, Scientists for Future und anderen, dann zeigt das doch einen breiten Wunsch nach Veränderung und nicht nach Bewahrung des Status Quo.
Das heißt, dass das klassische Bild – rebellische Jugend, beharrende Alte – nicht mehr stimmt?
Ich glaube, das liegt daran, dass das Gros der Menschen die Notwendigkeit von Veränderungen begriffen hat, und auch so klug ist, dahinter zu schauen, welche Faktoren dazu beitragen, dass so wenig geschieht. Das ist auch eine politische Frage. Spätestens seit dem VW-Skandal weiß man, was alles an Betrügereien im Hintergrund passieren kann. Oder das Beispiel Christian Schmidt, der als Bundeslandwirtschaftsminister ohne Absprache mit der Umweltministerin verhindert hat, dass Glyphosat in der EU frühzeitig verboten wird. Das verfolgen nicht nur Jüngere, sondere auch Ältere.
Veränderung ist auch ein schmerzlicher Prozess. Kulturwissenschaftlich betrachtet: Diese Schmerzen müssen sein?
Auch hier: Jein. Veränderungsprozesse haben oft zwei Seiten, und angesichts der aktuellen ökologischen Krisen ist einfach die Frage, was man als schmerzhafter empfindet. Ob man es als schmerzhafter empfindet, dass der heißgeliebte Wald, zu dem die Deutschen ja eine lange kulturelle Beziehung haben, ‚vor die Hunde‘ geht, oder ob man es als schmerzhafter empfindet, statt in einen Benziner in ein E-Auto oder einen Bus zu steigen. Das ist immer eine Frage der Abwägung. Ich erinnere mich noch daran, dass eine Studentin nach einer Seminarsitzung zum Klimawandel zu mir sagte: „Wir überlegen ernsthaft, ob wir noch Kinder in diese Welt setzen dürfen." Das ist die Kehrseite dieser Veränderungsprozesse, die etwas sehr Bedrohliches hat. Die Vermüllung und der Raubbau an der Natur sind objektiv viel bedrohlicher. Die Verkehrswende und die Energiewende werden wir schon irgendwie hinkriegen. Selbst wenn damit Verzicht verbunden wäre: Um welchen Preis denn? Ich empfinde es als unglaublichen Verlust, wenn es in der Arktis kein Eis mehr gäbe, oder keine Gletscher in den Alpen! Es wird auch viele Leute geben, die vermissen, dass man im Winter nicht mehr Skifahren kann.
Was als bedrohlich empfunden wird, sind Geschwindigkeit und Massivität der Veränderungen. Sind wir Menschen für diese Herausforderung gerüstet?
Wenn ich mir als Zeitzeugin ansehe, was sich allein in den letzten 30 Jahren technologisch verändert hat, ist das gigantisch, dabei sind 30 Jahre historisch und kulturell eine ganz kurze Zeit. In historischen Gesellschaften haben sich Veränderungen in anderen Zeiträumen abgespielt. Vielleicht hat man sich deshalb da auch mehr mit Traditionen auseinandergesetzt. Wenn man sich die Geschichte der Menschheit anschaut – und ich gehe da nicht zurück bis in die Steinzeit – und sich fragt, seit wann überhaupt halbwegs stabile Verhältnisse in Westeuropa eingetreten sind, dann ist auch das eine historisch kurze Zeit, und wir haben uns darauf eingestellt.
Neben der Geschwindigkeit gibt es auch den gleichzeitigen Druck, vor Punkten zu stehen, die unumkehrbar sind, wenn wir uns nicht vorher, und das heißt unmittelbar jetzt, verändern: Was macht das mit Menschen, mit Gesellschaften?
Vielleicht ist das, was vor Corona schon angelegt war und durch Corona dann verstärkt worden ist, was man als Spaltung der Gesellschaft beschreibt, Ergebnis dieser Situation. Was man auf jeden Fall beobachten kann, ist ein Anstieg von Fake News seit einigen Jahren, dass Dinge verleugnet und auch offen geleugnet werden. Nehmen Sie zum Beispiel Donald Trump oder die offenbar steigende Anzahl von Menschen, die glauben, Bill Gates hätte das Corona-Virus in die Welt gesetzt. Eine andere Reaktion, die ich in unserer Gesellschaft sehe, ist die (Wieder-)Zuwendung zur Natur. Das spiegelt sich schon seit Jahren auch in kommerziellen Angeboten nicht nur für Gartenartikel, sondern beispielsweise auch für Wildvögel, Igel und andere Lebewesen wider. Es gibt den Trend zum Garten schon seit Jahren als Ausdruck einer zunehmenden Sehnsucht nach Natur, inzwischen ziehen selbst Studierende Tomaten auf dem Fensterbrett, um hier nur Beispiele nennen.
Müssen wir uns grundsätzlich von der Vorstellung verabschieden, wir könnten die Welt nur nach unseren Bedürfnissen gestalten und seien Herren der Schöpfung?
Das ist ohne Zweifel so. Wobei die aktuelle Bedrohung der Erde und der Biodiversität auch damit zu tun hat, dass es inzwischen annähernd acht Milliarden Menschen gibt, die fast jeden Winkel der Erde erreicht haben. Auch wo wir nicht siedeln, sind wir zumindest touristisch unterwegs, seit Jahren erobern wir auch den Weltraum. Es war ja für viele nicht vorstellbar, dass das, was der Club of Rome in den 1970er-Jahren vorausgesagt hat, eintreten würde, und das so schnell. Selbst viele Klimaforscher hatten nicht mit dieser Schnelligkeit gerechnet.
Wie verändert uns dieses Bewusstsein, dass wir tatsächlich vor einem Punkt stehen, an dem klar ist, dass wir nicht mehr so weitermachen können?
Ich nehme wahr, dass sehr viel mehr Menschen bereit sind, diese Wandlungsprozesse zu gestalten.
Was sagen Sie dann zu dem berühmten Beispiel: Windkraft ja – aber bitte kein Windrad vor meiner Haustür?
Das habe ich nie verstanden. Sicher muss man keine Windräder dorthin stellen, wo der Rotmilan noch zu Hause ist. Aber diese zwiespältige Haltung ist auch Ausdruck der Individualisierung, und dass man das große Ganze dahinter nicht mehr sieht. Ich bin sicher: Das wird kommen. Es wird kommen müssen.
Was auch zu beobachten ist, sind Arten von Fluchtverhalten. Manche rechnen das „Zurück zur Natur" dazu, es gibt Esoterik-Bewegungen mit Zulauf, und eben den Rückzug in selbstgebastelte Vorstellungswelten.
Ich könnte kulturhistorisch nicht genau erklären, woher es kommt, dass Fake News, Lügerei und die Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse sich so verbreiten. Aber ich frage auch umgekehrt: Welche Erkenntnis würde es bringen, wenn man das alles als „Fluchtverhalten" bezeichnet?
Vielleicht eine Erklärung der Reaktionen auf Bedrohungslagen?
Laienpsychologisch könnte man das vielleicht annehmen. Das Leugnen von Bedrohung ist historisch nachweisbar, heute wird es natürlich medial und in unglaublichem Maß vervielfältigt. Übrigens ist die Angst der Deutschen vor dem Impfen auch historisch nachweisbar.
Wir leben in einer Welt, in der wir über mehr Informationen verfügen als jemals zuvor in der Geschichte. Mein Eindruck ist aber: Wir sind unfähig, damit gut umzugehen. Was macht das mit uns und was bedeutet es für die Veränderungsprozesse?
Ich habe den Eindruck, das führt dazu, dass sich viele Menschen viel gezielter ihre Medien aussuchen. Wenn man glaubt, dass Bill Gates Corona erfunden hat, um der Menschheit zu schaden, dann bewegt man sich eben in diesen Kreisen. Man kann sich seine Gruppen aussuchen, und damit verkleinert sich der Informationsfluss.
Wir haben insgesamt einen enormen Wissensstand und verkriechen uns in kleine Informationshöhlen. Wie passt das zusammen?
Ich denke, das hat auch damit zu tun, dass spätestens im 20. Jahrhundert ein Individualisierungsprozess eingesetzt hat, also dass die individuellen Befindlichkeiten eine immer größere Rolle spielen. Vielleicht ist das auch eine Reaktion auf die Globalisierung, die ja auch nicht nur schöne Seiten hat. Einer meiner Forschungsschwerpunkte ist die Ernährungsgeschichte. Wenn man sich anschaut, wozu die Globalisierungs- und Industrialisierungsprozesse geführt haben, da wird ganz viel undurchsichtig. Man sieht zum Beispiel der Salami nicht an, dass deren Ursprung ein lebendes Tier ist. Da ist ganz viel aus unserer Anschauung verschwunden oder verschoben worden. Das ist jetzt nochmal deutlich geworden, als wir durch die Corona-Ausbrüche einen Einblick bekommen haben, wie es in Schlachthöfen zugeht. Durch die Globalisierung ist vieles so komplex geworden, dass man es nicht mehr durchschaut, und das macht es vielleicht auch so bedrohlich. Und das erklärt vielleicht auch zum Teil den Rückbezug auf Regionales – was nicht nur mit einer ökologischen Einstellung zu tun haben muss.
Wir haben jetzt eine Gleichzeitigkeit von großen Veränderungsprozessen: Klima, Digitalisierung, Transformation als Stichworte. Wie wirkt sich diese Gleichzeitigkeit aus?
Die ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass das so lange verdrängt worden ist, weil die Aufgabe so riesig erscheint. Aber dafür ist die Aufgabe jetzt ja nur noch schwieriger geworden.
Ist es nicht eine typisch menschliche Verhaltensweise, Dinge vor sich herzuschieben, bis es gar nicht mehr geht?
Ich glaube, dass das eine unterkomplexe Erklärung wäre, weil diese ganz wichtige Faktoren außen vor lässt, nämlich, dass es natürlich Verantwortliche gibt, Machtansprüche und Interessen. Ich habe das Beispiel VW-Skandal schon angesprochen, das zeigt, dass da ganz viele handfeste Interessen dahinterstehen. Das gehört alles mit in die Betrachtung, und nicht nur zu sagen, es liegt daran, dass die Leute zu träge sind. Die Politik legt schon seit Jahren den einzelnen Menschen die Verantwortung auf die Schultern, Stichwort: Verantwortung des Verbrauchers. Im VW-Skandal zum Beispiel hat sich gezeigt, dass es nicht in der Hand des Verbrauchers liegt, der konnte bei seiner Kaufentscheidung von dem Betrug nichts wissen. Und beim Müll hat man ein ökologisches Etikett draufgeklebt, wir haben als Konsumenten geglaubt, wir können Plastikflaschen kaufen, weil die wiederverwertet werden. Wir Verbraucher wussten lange nichts davon, dass Berge davon nach Übersee verschifft oder verbrannt werden.
Wir erleben jetzt seit zwei Jahren eine Pandemie, die unseren Alltag teils gründlich verändert hat. Brauchen wir solche einschneidenden Ereignisse, damit sich etwas ändert?
Im Alltag hat die Pandemie sicher ganz viel verändert. Ich habe gerade eine Bachelorarbeit dazu vorliegen, die untersucht hat, wie sich das studentische Leben in Zeiten von Corona geändert hat. Aber ob es langfristig zu Verhaltensweisen führt, die eigentlich vernünftig wären, auch unter ökologischen Notwendigkeiten, das wage ich zu bezweifeln. Da müsste die Politik die Rahmenbedingungen gestalten. Fluggesellschaften beispielsweise haben ja nicht gesagt: Wir steigen jetzt um auf andere Geschäftsmodelle, Urlauber haben auch nicht gesagt, wir fliegen jetzt nicht mehr irgendwo hin. Den Lerneffekt aus der Pandemie sehe ich nicht, solange die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen so sind, wie sie sind.
Wäre die Lehre dann eine Verabschiedung vom bisherigen Wachstumsbegriff?
Ich bin keine Ökonomin, aber das banale Argument, dass es kein endloses Wachstum in einer endlichen Welt geben kann, leuchtet spontan ein. Und dass pausenloses Wachstum auf der einen dann auf der anderen Seite zu Verlusten führt, wo Dinge verschwinden, sehen wir ja auch. Es gibt übrigens längst eine Postwachstumsökonomie, es gibt sogar Professuren dafür.
Schaffen wir das?
Ich glaube: Ja. Wir müssen es. Und es gibt ja genügend Ideen. Wir müssen nur eine andere Form von Gesellschaft entwerfen – die wird aber nicht schlechter sein.