Die gewaltsamen Corona-Proteste geben einen Vorgeschmack der Konflikte, die bei einem gesellschaftlichen Umbau zur Nachhaltigkeit zu befürchten sind. Ingolfur Blühdorn warnt vor sozialen Ungleichheiten und einer „autoritären Wende".
Herr Blühdorn, Klimakrise und Pandemie stellen Freiheitsrechte in Frage und verlangen von uns Verzicht und Beschränkungen. Wie weit ist unsere Gesellschaft dazu bereit?
Tatsächlich haben die Klimakrise und die Pandemie dazu geführt, dass verbreitete Freiheitsverständnisse und selbstverständlich gewordene Berechtigungsansprüche im weiteren Sinne wieder zur Diskussion stehen. Das war nach einer langen Phase der Deregulierung längst überfällig. Allerdings wird die Frage nach dem Verzicht und den Freiheitsrechten meist noch aus einer sonderbar einseitigen Perspektive gestellt.
Wie meinen Sie das?
Die Freiheitsrechte und Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Menschen sind in der Praxis sehr ungleich und werden immer ungleicher verteilt. Das gilt sowohl innerhalb unserer insgesamt wohlhabenden Gesellschaften als auch im Vergleich mit ärmeren und sehr armen Ländern. Die Pandemie hat das noch einmal besonders deutlich gemacht. Diese Ungleichheit widerspricht fundamental unserem Bekenntnis zu universellen Freiheits- und Menschenrechten.
Wie lässt sich das auflösen?
Im Zeichen des Klimawandels und der Überschreitung planetarer Grenzen der ökologischen Belastbarkeit ist klar: Diese Rechte können nur dann für alle umgesetzt werden, wenn die wohlhabenden Länder – und dort nicht nur die privilegiertesten sozialen Schichten – ihre etablierten Freiheitsverständnisse und Berechtigungsansprüche wesentlich einschränken. Die Bereitschaft dazu scheint einstweilen aber gering.
Vor diesem Hintergrund ist die Frage dann nicht mehr, ob wir zu verzichten bereit sind, sondern nur worauf beziehungsweise was genau wir be- oder einschränken: unser Bekenntnis zu Gleichheit, Gerechtigkeit und universellen Menschenrechten oder unser lieb gewonnenes Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmung, von dem wir wissen, dass es exklusiv ist und auf Kosten der Grund- und Freiheitsrechte anderer Menschen geht.
Woher kommt dieses exklusive Freiheitsverständnis?
Nicht zuletzt vom Denken des Marktliberalismus. Er hat die Privatisierung und Deregulierung betrieben, die Politik und den Staat als inkompetent beschimpft und jede politische Regulierung als inakzeptablen Eingriff in die persönliche Freiheit abgelehnt. All das galt als besonders fortschrittlich und war vor allem im Interesse besonders privilegierter Gesellschaftsschichten. Es hat aber massiv die soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Spaltungen verstärkt und gleichzeitig die Skepsis gegenüber staatlichen Vorschriften.
Hat sich in der Pandemiezeit ein neues Denken entwickelt, das jede Einschränkung als autoritär und diktatorisch empfindet?
Es gibt gesellschaftliche Gruppen, und zwar keineswegs nur am rechten Rand, die lautstark als Freiheitskämpfer auftreten, dabei aber oft eine wenig demokratische Gesinnung zeigen und ihre persönlichen Freiheiten weit über soziale Verantwortlichkeiten stellen. Ihr „Freiheitskampf" destabilisiert politische Institutionen und die liberal-demokratische Ordnung und stärkt weit über diese Gruppen hinaus die gesellschaftliche Nachfrage nach autoritärer Führung.
Aber durch die Pandemie ist der Anspruch auf grenzenlose Freiheit wieder deutlich beschnitten worden. Glauben Sie, dass die Menschen das alles ganz schnell wiederhaben wollen: Fernreisen, grenzenlosen Konsum, billige Produkte aus Entwicklungsländern?
Es gibt Bereiche wie zum Beispiel Flugreisen, Fleischkonsum, Tierwohl, Biogemüse oder Solarstrom, in denen sich gewisse Veränderungen abzeichnen. Diese Veränderungen vollziehen sich aber oft innerhalb besonders konsumstarker Gesellschaftsschichten, deren ökologischer Fußabdruck insgesamt dennoch weit überdurchschnittlich bleibt. Ein grundlegender Strukturwandel, wie er ökologisch und mit Blick auf universelle Menschen- und Freiheitsrechte erforderlich wäre, ist im Moment noch nicht erkennbar.
Verändert sich das durch die neue Regierung?
Das wird sich zeigen. Schritte in die richtige Richtung sind angekündigt. Aber die Modernisierungsoffensive, die im Wahlkampf alle Parteien versprochen hatten und die die neue Regierung nun einleiten möchte, zielt insgesamt doch wieder eher auf ein „Weiter so": Der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen und auch die Digitalisierung waren von Anfang an als eine Chance für innovative Produkte, neue Märkte, neuen Konsum und neues Wachstum konzipiert. Aber die Hoffnung auf grünes Wachstum, also dass man Wachstum von Ressourcenverbrauch und steigender Ungleichheit entkoppeln könne, hat sich längst als unhaltbar erwiesen.
Die Schäden betreffen vor allem die anderen, die armen Länder. Haben die nicht am meisten zu verlieren?
Auch die reichen Länder des globalen Nordens haben sehr viel zu verlieren: ihre Freiheit, ihren sozialen Frieden, ihre Demokratie. Aber je länger sie an ihrem fehlgeleiteten Freiheitskampf festhalten, desto mehr verschärfen sie – innergesellschaftlich und international – soziale Ungleichheiten, Spaltungen und Konflikte. Diese Bedrohungen werden sehr schnell ökologische, soziale und politische Kipppunkte erreichen. Die Corona-Proteste illustrieren das ebenso wie die immer schnellere Folge verheerender Extremwetterkatastrophen oder die Migrations- und Flüchtlingsproblematik, die nicht nur die EU heillos überfordert.
Zwischen theoretischer Einsicht und praktischem Handeln liegen aber oft Welten. Wie gelingt es, die Menschen mitzunehmen, damit sich was ändert?
Nicht zuletzt indem wir uns kategorisch gegen die verfehlte Polemik gegen Verzicht, Verbotspolitik und eine angebliche Klima- beziehungsweise Corona-Diktatur stemmen. Das sind politische Kampfbegriffe, die verleugnen, dass Beschränkung immer schon ein unverzichtbarer Teil der Freiheit gewesen ist. Freiheit gibt es nur mit Begrenzung, denn das entgrenzte Freiheitsstreben gewisser Teile der Gesellschaft provoziert sonst unvermeidlich genau das, wogegen es sich stemmt: autoritäre Herrschaft.
Gleichheit statt Freiheit – ist das Ihre Botschaft?
Es ist kein Entweder-oder. Aber es wird Zeit, dass wir von der utopischen Hoffnung auf noch mehr Freiheit und ein noch besseres Leben für die ohnehin schon Privilegierten umschalten auf die Verhinderung einer höchst realistischen Dystopie: Die liegt weniger im Untergang der Menschheit oder darin, dass unser Planet vollständig unbewohnbar werden könnte, sondern in der autoritären Wende zu einer Überwachungs- und Kontrollgesellschaft, in der eine privilegierte Minderheit alle verfügbaren Mittel mobilisiert, um zugunsten der eigenen Freiheit und des eigenen Wohlstandes eine weitgehend entrechtete Mehrheit in Schach zu halten.