Veränderungen können aufregend sein, uns aber auch belasten. In einer hochkomplexen Welt mit vielen gleichzeitigen Umbrüchen besteht die Gefahr, Teile der Gesellschaft durch den Wandel zu verlieren, wenn er nicht mit ihr gestaltet wird – zum Beispiel in der Automobilindustrie.
Corona, die Digitalisierung oder der Klimawandel – unsere Gesellschaft steckt in diversen großen Transformations- und Umbruchprozessen. Diese wirken sich auf alle Bereiche des Lebens aus, das Private wie den Beruf. Dabei ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Intensität und die Bedeutung der einzelnen Wandlungen je nach Branche stark variieren: Für viele Angestellte im Dienstleistungssektor spielt die beginnende Homeoffice-Kultur zum Beispiel eine bedeutende Rolle in ihrem Berufsalltag, für Beschäftigte etwa in der Autoindustrie der Klimawandel. Schließlich geht es in dem Fall um den betrieblichen Umstieg auf Elektroautos und den Weg hin zu einer CO2-freien Produktion. Dies gilt natürlich auch für manch Beschäftigten in anderen Branchen, jedoch eher im privaten Bereich. Aber was macht dieser Wandel mit uns, und wie nehmen wir ihn wahr?
Stellt man sich diesen Fragen, so ist es schnell offenkundig, dass es keine pauschalen und generalisierenden Antworten darauf gibt. Die Intensität und die Auswirkungen der einzelnen gesellschaftlichen Transformationen sind von Individuum zu Individuum selbst in der gleichen Branche oft unterschiedlich. Ein Beispiel: Homeoffice. Während viele von der Erfahrung, zu Hause arbeiten zu können, in der Coronazeit sehr angetan sind und sich das auch für ihre berufliche Zukunft mindestens einige Tage pro Woche vorstellen können, sehnen sich andere zurück in den Betrieb. Knut Tullius, Soziologe in Göttingen, erforscht derzeit die Erfahrungen, die Beschäftigte mit dem aktuellen Wandel machen. „Diejenigen, die die Kollegialität in ihrem Betrieb schätzen oder den betrieblichen Ort als Identifikationspunkt oder Ort des Lernens brauchen, leiden unter dem Homeoffice und der daraus entstehenden Isolation." Nimmt man noch andere Auswirkungen von Transformationsprozessen mit hinzu, wie die Umstellung auf neue, digitale Arbeitsvorgänge oder den erhöhten Druck durch internationale Konkurrenz in einer Branche, können sich die Angestellten rasch überfordert fühlen.
Die vielen Umbrüche, die wir erleben, können dabei Gefühle der Unsicherheit und Ungleichheit auslösen. Das liegt auch an der Geschwindigkeit und Intensität, mit der sie uns gefühlt spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 betreffen. Auch langfristigere Trends wie die Globalisierung oder der demografische Wandel scheinen sich durch ihre Gleichzeitigkeit noch zu intensivieren. „Wir haben multiple Transformationen mit unterschiedlicher Zeitlichkeit, die sich aktuell in einem Ausmaß zu überlappen und zu überlagern scheinen, dass sie eine besondere Schlag- und Strahlkraft sowie eine wechselseitige Verstärkung zu haben scheinen", so Tullius, Mitwirkender am Forschungsprojekt „Mentalitäten des Umbruchs".
„Da deuten sich Brüche an"
Das führt auch zu Verhaltensänderungen: War es beispielsweise noch vor einer Generation bei Beschäftigten des Automobilsektors üblich, dass man den eigenen Kindern gerne geraten hat, denselben Sektor für ihre berufliche Zukunft zu wählen und aufzusteigen, sieht man heute in einer betrieblichen Kontinuität über die Generationen keinen so hohen Wert mehr. Heute liegt für manchen Facharbeiter die größere Sicherheit für die eigenen Kinder in besserer Bildung. Knut Tullius: „Die Aufstiegsperspektive sehen die Befragten heute nicht mehr in der Automobilindustrie. Als Minimum gilt mittlerweile das Abitur, wobei ein Studium für ein bestimmtes Tätigkeitsfeld wie Medizin auch sehr positiv wahrgenommen wird. Das ist uns bei den Interviews mehrfach als Antwort begegnet. Da deuten sich Brüche an." Das ist eine Folge der Lebensrealität in der Branche mit dem vielerorts herrschenden Stellenabbau und der Verlagerung der Produktion in günstigere Länder. Auf der anderen Seite sehen viele der aktuell Beschäftigten, mit denen Tullius für die Studie „Mentalitäten des Umbruchs" bisher gesprochen hat, nicht mit Angst in die eigene Zukunft. Die Angestellten im mittleren Alter gehen dabei davon aus, dass Maßnahmen wie ein sozialverträglicher Stellenabbau dazu führen, dass sie es in ihrem Beruf schon noch bis zur Rente schaffen werden.
Wandel lässt sich kaum aufhalten, seine Folgen können aber gestaltet werden. Dabei sollte eine Gesellschaft auch immer im Blick behalten, wie fair oder unfair die Lasten der Transformation verteilt werden. Im Sektor der Automobil- und Zuliefererindustrie lasse sich schon seit einigen Jahren beobachten, dass der Abschied vom konventionellen Verbrenner hin zur E-Mobilität in der Branche sehr ungleich verteilt wird, so Sozialforscher Tullius. Neue Produktionsweisen, andere Arbeitsabläufe und mehr Robotik in den Hallen sind primär eine Veränderung, mit der sich der produzierende Bereich, die Blue Collar Arbeiter, auseinandersetzen müssten, so Tullius. Für die Büroetagen bedeutet eine solche Umstellung deutlich weniger Veränderung. Das führe tendenziell zur Spaltung in der Belegschaft und ist Wasser auf die Mühlen der Rückwärtsgewandten und rechter Betriebsgruppen, die schon seit gut zehn Jahren daran arbeiten, die ungleiche Lastenverteilung zu ihrem Vorteil zu nutzen. Hier sind Betriebsräte, die Geschäftsführung, aber auch die Wissenschaft und die Politik gefordert, Möglichkeiten zu finden, wie die jeweiligen negativen Folgen der Transformation richtig adressiert und behoben werden können – damit so wenige wie möglich auf dem Weg, der vor unserer Gesellschaft liegt, verloren gehen.