In seiner ersten Laufbahn war er Geiger, unter anderem in Claudio Abbados „Mahler Chamber Orchestra". Inzwischen ist Antonello Manacorda, Wahl-Berliner aus dem italienischen Turin, als Dirigent gefragt – seit zehn Jahren leitet er die Kammerakademie Potsdam und gastiert jetzt in der Berliner Staatsoper.
Herr Manacorda, wie lief es beruflich seit dem Ausbruch von Corona?
Ich habe viel Glück gehabt. Anfangs gab es viele Absagen. Aber als die deutschen Orchester mit ihren Streams begannen, kamen die Anfragen. Vor allem von verschiedenen Rundfunkorchestern, deren Chefdirigenten irgendwo in anderen Ländern im Lockdown feststeckten. Und ich saß in Berlin und konnte problemlos einspringen. Insgesamt habe ich in diesen eindreiviertel Jahren bestimmt über 300 Corona-Tests gemacht, teilweise täglich.
Konnten Sie auch Opern dirigieren?
Ich war an einem „Freischütz"-Stream der Bayerischen Staatsoper beteiligt, der auch auf DVD erscheinen soll. In München haben sie genug Geld, um zwei Monate lang hochprofessionell an einem Stream zu arbeiten. Die Aufnahme war wirklich eine Herausforderung: Ich stand in der Mitte des Parketts. Es gab keinen Graben. Das Orchester war im Parkett verteilt; die Sänger auf der Bühne, 40 Meter von mir entfernt. Das bedeutete, ich hörte den Klang mit Verzögerung; aber die Mikrophone nahmen ohne Verzögerung auf. Außerdem gab es eine Mozart-Inszenierung an der Wiener Staatsoper; mit Publikum im Schachbrettmuster. Die Österreicher waren mit ihren Hygienemaßnahmen mutiger.
Wie haben sich die Corona-Abstands-und Hygieneregeln auf das Spiel im Orchester ausgewirkt?
Die Musiker fühlten sich sehr verloren und unsicher, was auch an den geforderten Abständen auf der Bühne lag – plötzlich sitzt man allein am Pult. Man hört die anderen schlechter; das Zusammenspiel wird schwieriger. Als ich im Mai 2020 in der Elbphilharmonie dirigierte, betrug der Abstand zwischen dem Konzertmeister und der Oboe 20 Meter! Ich musste mich erst einmal daran gewöhnen, dass der Klang so weit wird; dass man verzögert hört. Zu den Herausforderungen gehörte auch, dass nun andere Werke gespielt wurden, die den großen Orchestern teilweise nicht so vertraut sind. Groß besetzte Sinfonien und Opern waren ja über weite Strecken nicht mehr möglich.
Sie leiten die Kammerakademie Potsdam seit zehn Jahren – was ist deren Markenzeichen?
Die Mitglieder wollen einfach nur Musik machen. Sie sind alle Freiberufler. Sie entscheiden selbst, was gespielt wird, wieviel geprobt wird, welche Solisten eingeladen werden. Es gibt keine Pflicht, zu spielen. Wer bei einem Projekt nicht mitmachen will, der lässt es. In den öffentlich geförderten Tariforchestern wäre so etwas undenkbar. Unsere Musiker haben auch die Freiheit, woanders zu spielen, Kammermusik zu machen oder zu unterrichten.
Die Kammerakademie entstand 2001 als Hausorchester für Potsdams neu eröffneten Nikolaisaal. Spielen noch Gründungsmitglieder im Ensemble?
Da gibt es so einige. Als wir im Frühjahr das neue Saisonprogramm vorbereiteten, haben wir ein Zoom-Gespräch mit ein paar Gründungsmitgliedern geführt. Es war sehr spannend, was die Musiker von der damaligen Zeit berichteten. Die Kammerakademie ist aus einer Fusion entstanden; das Potsdamer Persius-Ensemble und das Berliner Ensemble Oriol wurden vereint. Die Musiker waren damals alle ungefähr gleichaltrig. Vor ein paar Jahren überlegten wir, dass wir für frisches Blut im Ensemble sorgen sollten. Deshalb haben wir eine eigene Orchesterakademie gegründet und neue Stellen eingerichtet.
In Ihrer ersten Karriere waren Sie Geiger und Konzertmeister. Inwiefern profitieren Sie als Dirigent von diesen Erfahrungen?
Vor allem habe ich als Konzertmeister sehr viel über Probenprozesse gelernt.
Die meisten Orchester haben zwei Probentage vor einem Konzert, manchmal sogar nur einen. Wir als Kammerakademie Potsdam proben immer mindestens drei Tage.
Im Mai dieses Jahres geben Sie als Dirigent Ihr Debüt bei den Berliner Philharmonikern, die in den 1990er-Jahren von Claudio Abbado geleitet wurden.
Da muss es unbedingt Gustav Mahler sein. Dessen Sinfonien waren früher in der Arbeit mit Abbado so wichtig für mich. Die Berliner Philharmoniker wollen Schubert mit mir machen; wahrscheinlich, weil ihnen der Schubert-Zyklus der Kammerakademie Potsdam gefällt. Aber Schubert und Mahler, die beiden Österreicher, ergänzen sich ja gut.
Was haben Sie demnächst mit der Kammerakademie Potsdam vor?
Seit ein paar Jahren laden wir immer einen Artist in Residence ein, der sich bei uns in ganz verschiedenen Formaten präsentiert: als Solist mit Orchester oder als Kammermusiker. Jeder unserer Artists in Residence hat die Kammerakademie bereichert. In der Saison 2021/22 ist es Anna Prohaska: eine tolle Sopranistin, eine tolle Darstellerin, eine Entdeckerin von neuem Repertoire. Ich hatte sie schon früher einige Male gefragt, ob sie das machen will. Aber sie hatte damals nie Zeit; denn sie ist sehr gefragt.
Welche Tonaufnahmen stehen demnächst für die Kammerakademie an?
Wir haben die Corona-Zeit genutzt, sehr viel Musik aufzunehmen. Jetzt kommt eine neue CD mit den letzten drei Mozart-Sinfonien auf den Markt. Außerdem haben wir mit der Einspielung eines neuen Zyklus der Beethoven-Sinfonien begonnen.
Nehmen Sie auch Ideen aus der historischen Aufführungspraxis auf?
Damit sollte man sich bei jedem Komponisten beschäftigen; man braucht dafür nicht unbedingt Darmsaiten. Ich versuche immer, die Partitur bis ins letzte Detail zu verstehen. Das ist schließlich die einzige Grundlage, um zu erkennen, welchen Klang sich ein Komponist wünschte. Jeder Komponist hat seine eigene Sprache, die wir lernen müssen. Eine Achtelnote bei Mozart bedeutet etwas anderes als eine Achtelnote bei Tschaikowski. Brahms hatte einen anderen Streicherklang im Kopf als Ravel. Je neuer die Musik ist, desto einfacher wird es, weil es noch Original-Tonaufnahmen gibt.
Sind Sie als Dirigent eher ein Anführer oder ein Team-Player?
Man muss beides sein. Von Natur aus bin ich ein Teamplayer. Auch, weil ich vom Mahler Chamber Orchestra komme, wo es kaum Hierarchien gab und demokratisch zuging. Ähnlich ist es auch bei der Kammerakademie Potsdam. Das funktioniert aber nicht bei jedem Orchester. Es gibt Ensembles, die das nicht gewohnt sind und damit nicht umgehen können; da muss ich mich dann auf klare Anweisungen beschränken.