Seit bald vier Jahren gehen bundesweit Hunderttausende Menschen gegen den Klimawandel auf die Straße. Viele davon folgen den Erkenntnissen des Club of Rome über die Endlichkeit des Wachstums.

Es ist noch dunkel an diesem Freitagmorgen Anfang Februar in Berlin-Moabit. Der andauernde Nieselregen will nicht aufhören. Das alles bei drei Grad am alten Hafen des Berliner Großmarktes für Fleisch, Gemüse und Obst. Gegenüber im Dickicht der Uferpromenade kauern gut 30 Klimaaktivisten, unter ihnen Ernst Hörmann aus Freising bei München. Keine 20 Meter entfernt verläuft die A100, während der Rush Hour Europas dichtbefahrenste Autobahn. Der morgendliche Berufsverkehr rauscht vorbei, die Aktivisten sind auf dem Sprung. Ein Stau wird weiter vorn am nördlichen Ende der A100 von ihren Mitstreitern an der Übergangskreuzung provoziert.
Die Ampel dort ist Rot, die Kreuzung wird daraufhin blitzartig besetzt. 2.000 Meter hinter dieser Kreuzung auf der Autobahn steht binnen Minuten der Verkehr. Gleichzeitig kommt im Gebüsch Bewegung auf. Innerhalb von wenigen Sekunden stürmen die dortigen Aktivisten die Böschung hinauf, springen über die Leitplanke, rennen zwischen den stehenden Autos durch und setzen sich nebeneinander auf die Autobahn. Helfer schleppen die Transparente nach. Nicht nur an dieser Stelle ist damit die wichtigste Autobahn der Bundeshauptstadt von dem Bündnis „Aufstand der letzten Generation" blockiert. An fünf weiteren Stellen spielen sich entlang der A100 vom Großmarkt Richtung Innenstadt ähnliche Szenen ab.
Proteste legen Verkehr lahm
Die Aktion ist generalstabsmäßig geplant, innerhalb von nicht mal 20 Minuten ist die Berliner Magistrale komplett lahmgelegt. Beteiligt an dieser Aktion sind vielleicht 100 Leute, die der Millionenmetropole zeigen, wie schnell man diese lahmlegen kann.
Der „Letzten Generation" geht es in ihrer seit Wochen andauernden Aktion um den Kampf gegen Essensverschwendung. „Die Supermärkte werfen jeden Tag tonnenweise Lebensmittel in den Müll, die alle noch völlig unbedenklich genießbar sind. Eventuell ist das Haltbarkeitsdatum abgelaufen oder das Gemüse sieht nicht mehr so frisch aus, wie es der Kunde vermeintlich gerne möchte, das fliegt alles in den Müll", sagt eine 24-jährige Bremerin. Sie lässt derzeit ihr Jurastudium ruhen und ist nun quasi hauptberuflich Klimaaktivistin. Um den Autofahrern zu dokumentieren, wie hier mit Essen und damit auch mit unserer Umwelt umgegangen wird, wird quer über die Autobahn „Essensmüll" verteilt, der vorher aus den Containern von Supermärkten gerettet wurde.
Einer der Blockierer, der auf der Autobahn hockt, nimmt aus dem ausgeschütteten „Essenmüll" demonstrativ eine saftig rote Paprika, beißt unter Aufsicht der gestauten Autofahrer genüsslich hinein. Ernst Hörmann ist einer der gestandenen Aktivisten, aber wahrlich kein Jungspund mehr. Der 72-Jährige aus Freising bei München ist jetzt seit zehn Jahren bei den Klimaaktivisten dabei und Mitbegründer des Aufstands der letzten Generation. „Das bin ich meinen acht Enkeln schuldig." Sein Klimabewusstsein wurde tatsächlich durch den Bericht „Grenzen des Wachstums" des Club of Rome vor 50 Jahren geweckt. „Wir waren damals ja ohnehin kritisch, uns war klar, dass der Kapitalismus auf Kosten von uns Menschen geht, vor allem aber unsere Natur komplett ruinieren wird. Doch was sich jetzt abspielt, dieser komplett entfesselte globale Kapitalismus, bringt unsere Welt innerhalb der kommenden fünf Jahre völlig zum Kippen". Darum nimmt der achtfache Großvater die Strapazen auf sich und besetzt Autobahnen, um der unbegrenzten individuellen Mobilität ihre Grenzen zu zeigen. „Wir müssen jetzt ein Zeichen setzen und erreichen die Menschen nur mit solchen Aktionen", so der 72-Jährige gegenüber FORUM.
Der erfahrene Aktivist hat seit den Protesten von Wackersdorf dazugelernt. Früher wurden sie von den Polizisten von dem Weg zur nuklearen Wiederaufbereitungsanlage bei Blockaden einfach weggetragen. Das geht heute nicht mehr. Früher war Landstraße, heute ist Autobahn, und da klebt Ernst Hörmann einfach seine beiden Hände an der Fahrbahndecke mit Sekundenkleber fest. „Das kostet die Beamten viel Zeit, um meine Hände wieder von der Fahrbahndecke runterzulösen. Jede Minute, die die Menschen im Stau stehen, ist dank Abschaltautomatik gut fürs Klima. Es wird kein Sprit verbraucht, und die Fahrer kommen so mal zu sich, können über ihr Handeln nachdenken".
In diesem Moment tauchen an diesem mittlerweile ergrauten Freitagmorgen auch die Polizisten der technischen Hilfe auf der A100 auf, vor der Ausfahrt Beusselstraße in Berlins Norden. Sie haben das gesamte Besteck zum Loslösen der Hände im Gepäck. Spezialöl, Löschpapier, und viel Fingerspitzengefühl, um Finger für Finger und dann die Handfläche von der Fahrbahn zu lösen. Der 72-Jährige wird mitgenommen und geht wieder für Stunden in die Gefangenensammelstelle (Gesa). Für Ernst Hörmann ein mittlerweile bestens bekannter Ort. Sowohl die Beamten auf der Autobahn, als auch in der Gesa kennen ihn und gehen mit ihm höflich, ja fast schon zuvorkommend um.
Die Autofahrer auf der Stadtautobahn sind nach zwei Stunden froh, dass der Verkehr wieder fließt, Tumulte von ihrer Seite gab es diesmal nicht. Aber „brenzlige Situationen, wo gerade aufgebrachte Lieferanten auf Termintour die Beherrschung verloren haben, haben wir mehrfach erlebt", räumt Aktivistin Carla Hinrichs ein.
„Müssen weniger Energie verbrauchen"

Für die Klimaaktivistin Anny Reise ist das alles ganz putzig, was ihre Umweltfreunde auf der Stadtautobahn veranstalten, aber die 22-Jährige glaubt nicht an einen wirklichen politischen Erfolg des Ganzen. „Da werden irre viele Leute getroffen, die vielleicht längst nachhaltig in ihren Möglichkeiten leben, und die kommen dann nicht zu ihrem Job und müssen möglicherweise Lohnausfälle hinnehmen, dass macht keinen Sinn. Wir müssen die Klimasünder direkt treffen." Die junge Frau, die sich ebenfalls von ihrem Studium für den Klimakampf hat freistellen lassen, kommt ursprünglich aus der „Fridays for Future"-Bewegung, war dann bei Extinction Rebellion. „Da wurde viel gelabert und jeder hat im Plenum auf dem Smartphone rumgekloppt, ohne zu wissen, dass damit schon wieder wertvolle Energie vergeudet wird." Anny Reise hat auch bei der „Letzten Generation"-Station mitgemacht. Doch auch mit denen hat sie gebrochen. „Der Klima-Hungerstreik im letzten Sommer war nun das Allerletzte. Das ist Gewalt gegen den eigenen Körper, und das sollten wir doch aus der Geschichte der Stammheimer gelernt haben, dass das gar nichts bringt. Der Staat lässt sich nicht erpressen!" Damit spielt die 22-Jährige auf den Hungerstreik der RAF-Gefangenen in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim in den 1970er-Jahren an. Aber funktioniert der Kampf gegen den Klimawandel und für eine Energiewende auch ohne Gewalt, in welcher Form auch immer? Anny Reise wird vorsichtig, die Frage zielt natürlich auf die immer wieder brennenden SUVs. „Das Grundproblem ist doch, dass die Prognosen uns mehr Stromverbrauch voraussagen, und dem müssen wir entgegensteuern. Wir müssen weniger Strom, weniger Energie verbrauchen, nur dann können wir das Klima retten. Doch dazu müssen wir die Klimasünder direkt ansprechen. Also zum Beispiel die, die immer noch mit ihrem drei Tonnen schweren SUV mit 400 PS zum Shoppen unterwegs sind oder ihre Kinder vor der Schule abladen."
Der große Klimastreik im letzten September in fast allen deutschen Städten war für sie okay, aber „verändert hat er doch gar nichts, das zeigt doch schon der Koalitionsvertrag einer Regierung, in der die Grünen sitzen". Die 22-Jährige sagt einen heißen Aktivistensommer voraus, denn „endlich müssen die Menschen, muss die Politik begreifen: Unendliches Wachstum gibt es nicht."
Eine Erkenntnis, die nun ein halbes Jahrhundert alt ist.