Seit dem Amtsantritt des neuen Berliner Senats ist verstärkt von einer „Mobilitätswende" die Rede. Denn die Zahl der Pkw ist in Berlin auf einen Rekordwert von rund 1,24 Millionen Fahrzeugen gestiegen. FORUM sprach mit der grünen Verkehrssenatorin Bettina Jarasch.
Frau Jarasch, seit Langem haben Autos Vorrang im Stadtverkehr. Sie wollen den wieder zurückbauen – was hilft da am besten: Parkraumverteuerung, Tempo 30, Anwohnerparkplätze, Fußgängerzonen?
Um den Trend umzukehren und künftig weniger Autos in der Stadt zu haben, braucht es nicht nur ein paar hilfreiche Maßnahmen, sondern eine ganz neue Politik. Diese Politik der Mobilitätswende hat Berlin vor fünf Jahren begonnen –
und mit dem Berliner Mobilitätsgesetz von 2018 ist sie verbindlich geworden. Erstmals ist hier gesetzlich verankert, dass der stadtverträgliche und klimafreundliche Verkehr, also ÖPNV, Rad- und Fußverkehr, bei allen Planungen den Vorrang vor dem Autoverkehr erhält. Das bedeutet praktisch, dass wir den öffentlichen Raum Stück für Stück umverteilen: weniger Parkplätze für Kfz, weniger Fahrstreifen für Autos, dafür mehr Radwege, mehr Platz für den Fußverkehr, mehr Busspuren, Straßenbahntrassen, mehr Ladezonen, mehr Lastenrad- und Scooter-Parkplätze. Aber auch mehr Grün, Bäume, Bänke und Brunnen dort, wo früher Auto-Abstellplätze waren. Berlin ist eine polyzentrische Stadt, und ich möchte, dass es überall autofreie Oasen in den vielen Stadtquartieren gibt – sei es ein verkehrsberuhigter Platz, sei es ein sogenannter Kiezblock oder eine Nebenstraße, die vom Durchgangsverkehr befreit wird, sei es ein ganzer Straßenzug, der so gestaltet wird, dass man sich dort auch in den künftigen Hitzesommern aufhalten kann und möchte. Natürlich gehören zu einer Stadt der Mobilitätswende auch Entschleunigung, also viel mehr Tempo 30, und faire Preise im öffentlichen Raum. Und das bedeutet: höhere Gebühren fürs Parken, auch für das Anwohnerparken.
Was halten Sie von einer Citymaut?
Die Citymaut ist eines der möglichen Instrumente, um Menschen vor allem in dichten Innenstädten zum Umsteigen auf klimafreundliche, leise und weniger gefährliche Mobilität zu bewegen. Wir haben in Berlins großer City eines der bestausgebauten ÖPNV-Systeme überhaupt. Viele andere Großstädte beneiden uns darum. Es gibt also Alternativen zum eigenen Auto – zumindest in der Innenstadt nutzen auch immer mehr Menschen diese Alternativen. Und auch wenn Menschen mit niedrigen Einkommen meistens gar kein Auto besitzen, befürchten unsere Koalitionspartner dennoch, eine Citymaut sei nicht sozial. Deshalb haben wir uns stattdessen auf Parkraumbewirtschaftung als Instrument geeinigt – und auf die Einführung einer Zero-Emission-Zone in der Innenstadt. Das bedeutet: eines Tages dürfen in der Innenstadt nur noch emissionsfreie Fahrzeuge unterwegs sein.
Gibt es Berechnungen dazu, ob der Last- und Zulieferverkehr in die Innenstadt auch mit Lastenfahrrädern zu schaffen wäre?
Lastenräder eignen sich hervorragend für den innerstädtischen Transport. Sie fahren emissionsfrei, sind leise und haben einen viel geringeren Flächenverbrauch als herkömmliche Lieferwagen. Gerade in dichtbesiedelten Gebieten mit relativ kurzen Strecken können Lastenräder diese Vorteile voll ausspielen und Autos ersetzen. Wir erproben daher intensiv neue Konzepte für die Logistik mit Lastenrädern. Da ist noch vieles möglich. Aber natürlich können Lastenräder nur die Feinverteilung von Waren auf der letzten Meile übernehmen. Zusätzlich planen wir daher, wie wir den Warentransport insbesondere auf Schiene und Wasser verlagern können.
Die autobefreite Friedrichstraße wirkt ja ein bisschen öde und leer. Wie könnte eine ideale Fußgängerzone aussehen?
Die Friedrichstraße war bisher ein Verkehrsversuch, also ein Provisorium. Eines unserer Ziele ist es, den Aufenthalt dort so attraktiv zu gestalten, dass auch wieder mehr Kunden angelockt werden, denn der Einzelhandel dort leidet wie überall vor allem durch den Boom des Onlineshoppings. Allerdings braucht es für eine dauerhafte Lösung ein Konzept, wie die Friedrichstraße mitsamt ihrem Umfeld tatsächlich neu gestaltet werden kann. Das ist mit zwei Fahrradstreifen und einigen Pollern, Pflanzen- und Schaukästen natürlich nicht getan. Ein solches Konzept erarbeiten wir gerade und werden es gemeinsam mit den Gewerbetreibenden dort und mit Bürgerinnen und Bürgern diskutieren. Wir wollen die Friedrichstraße aus Sicht des Fußverkehrs umgestalten: Vor allem für Fußgängerinnen und Fußgänger muss die Aufenthaltsqualität und auch die Attraktivität des Angebots erheblich steigen. Nicht umsonst ist das ganze Projekt mal als „Flaniermeile" gestartet.
Viele Radwege wurden in der Corona-Zeit sicherer gemacht – wird das weitergehen?
Natürlich. Berlin hat einen sehr ambitionierten Radverkehrsplan vorgelegt, der ein Vorrangnetz von 865 Kilometern vorsieht, mit einer Standardbreite von 2,50 Meter. Auch alle Hauptstraßen sollen gesicherte Radfahrstreifen bekommen. Im ersten Corona-Jahr hat Berlin die Pop-up-Radwege erfunden – inzwischen sind sehr viele davon zu richtigen Radwegen ausgebaut worden. Dieses Prinzip des schnellen, projektartigen, gemeinsamen Handelns wollen wir jetzt wieder anwenden, um beim Ausbau der Radinfrastruktur schneller voranzukommen.
Es fehlen Radschnellwege – sind die in der Planung?
Allerdings – endlich! Die Machbarkeitsstudien für zehn Radschnellverbindungen sind, nach Jahren intensiver Planung, fertig. Jetzt müssen wir priorisieren: Welche Strecke ist am schnellsten umzusetzen, welche ist am wichtigsten, um die Menschen zum Umstieg vom Auto aufs Rad zu bewegen? Das ist die Aufgabe der kommenden Jahre. Aber wir werden noch in dieser Wahlperiode mit dem Bauen beginnen.
Die E-Roller nehmen Fußgängern viel Platz weg – ist geplant, die an Sammelstellen zu konzentrieren?
Berlin entwirft gerade, auch im Austausch mit den Scooter-Anbietern, ein Verkehrskonzept für die gesamte Sharing-Palette, vom E-Tretroller übers Leihrad bis zum Carsharing. Wir wollen die Gehwege frei bekommen, aber auch die Angebote möglichst gut über die Stadt verteilen, damit auch die Berlinerinnen und Berliner am Stadtrand vom Sharing profitieren können. Dazu gehört auch, dass wir den E-Scootern Plätze zuweisen werden, wo sie dem Fußverkehr nicht im Weg sind. Wie genau das aussehen kann und sollte, wird derzeit erarbeitet.
Wird es besser, wenn alle Verbrennerautos in den Städten durch E-Autos ersetzt sind?
Die Luft wird besser, und auch die CO2-Emissionen sinken. Aber die Mobilitätswende besteht nicht darin, einfach alle Verbrennerautos durch E-Autos zu ersetzen. Denn damit ist weder das Platzproblem gelöst noch wären die Straßen sicherer geworden. Wir brauchen weniger Autos in den Städten, das ist das Entscheidende. Wir brauchen weniger Autos, weil wir mehr Platz brauchen für stadtverträglichen, umwelt- und klimafreundlichen Verkehr wie den ÖPNV, den Rad- und den Fußverkehr. Und weil wir mehr Platz brauchen für Menschen: für autofreie Plätze, für Parks, für Bäume, für Möglichkeiten, sich ohne Stress und Angst vor Unfällen draußen aufzuhalten. Das ist auch eine Gerechtigkeitsfrage. Wer wenig Geld hat, kann sich weder ein Auto noch einen Garten leisten. Gerade für diese Menschen wollen wir den öffentlichen Raum zurückerobern.