Mit Matthew Williams hat sich Givenchy nach Louis Vuitton als weiteres Pariser Traditionshaus die Dienste eines aus der Streetwear-Szene stammenden Gestalters gesichert.
Zu Zeiten, in denen sogar Entscheidungen von weltpolitischer Bedeutung via Twitter bekannt gegeben werden, konnte es eigentlich nicht mehr weiter verwundern, dass auch ein Pariser Fashion-Traditionshaus wie Givenchy im Sommer 2020 den Weg über die sozialen Medien zur Verkündung der personellen Neubesetzung seiner kreativen Schaltzentrale gewählt hatte.
Dass dafür ausgerechnet die Plattform Instagram auserkoren wurde, ließ schon erste Rückschlüsse darauf zu, dass sich das von Hubert de Givenchy 1952 gegründete Label neuen konzeptionellen Ufern und einer deutlich jüngeren Zielgruppe zuwenden möchte, vor allem der Generation Z. „Das Modehaus Givenchy ist hocherfreut darüber, die Ernennung von Matthew M. Williams zum Kreativdirektor bekannt geben zu können, der seine Arbeit am 16. Juni 2020 aufnehmen wird", so die ersten Zeilen des diesbezüglichen Posts. In Windeseile ging die Meldung durch sämtliche Medien, wobei überraschenderweise so gut wie niemand die naheliegende Frage zu stellen wagte: „Wer ist denn bitteschön dieser Williams?"
Stattdessen gab man sich zunächst einmal mehr oder weniger mit der ziemlich kurzen Vita-Zusammenstellung des damals gerade mal 34 Lenze zählenden Newcomers durch die Verantwortlichen des Luxuskonzerns LVMH zufrieden. Man habe die Entwicklung dieses Ausnahmetalents spätestens seit dessen Nominierung für den LVMH-Modepreis 2016 aufmerksam verfolgt und sei vor allem von der innovativen, den Zeitgeist perfekt treffenden Umsetzung von Streetwear-Einflüssen in den Kollektionen von Williams eigener Marke 1017 Alyx 9SM begeistert gewesen. Man sei daher überzeugt davon, dass man dank Williams „unvergleichlicher Herangehensweise an Design und Kreativität" das Potenzial der Marke künftig optimal werde ausschöpfen können. Williams bedankte sich artig für die Vorschusslorbeeren: „Es ist mir eine große Ehre, dem Hause Givenchy beizutreten. Die einzigartige Position des Hauses und seine zeitlose Aura machen es zu einer unbestreitbaren Ikone. Ich freue mich darauf, mit seinen Ateliers und Teams zusammenzuarbeiten, um es in eine neue Ära zu führen, die auf Modernität und Inklusivität basiert."
Deutlich jüngere Zielgruppe
Mit der Referenz auf Alyx dürften nur einige Streetwear-Insider klüger geworden sein. Denn über dieses 2015 gegründete Label, das zunächst nur eine Damenkollektion, aber schon eineinhalb Jahre später auch eine Herrenlinie präsentiert hatte, wurde in deutschsprachigen Publikationen, die sich mit Ladys-Fashion beschäftigt hatten, kein einziges Wörtchen verloren. Kein Wunder, sollte sich der am 17. Oktober 1985 im US-Bundestaat Illinois im Städtchen Evanston geborene und danach im kalifornischen Pismo Beach aufgewachsene Williams doch in erster Linie einen gewissen Ruf in progressiven Menswear-Kreisen erwerben. Was immerhin in der „Welt" lobend herausgestellt worden war: „Der Amerikaner wird gerade von jungen männlichen Kunden für seine oft martialisch anmutenden Entwürfe verehrt: Harnische, Cargo-Hosen, Balaclavas, Tarnmuster und funktionale Details wie Schnallen und Zipper sind typische Merkmale der Teile." Wobei er vor allem mit einer ausgefallenen Gürtellösung namens „Rollercoaster Belt" für Aufsehen gesorgt hatte. Der Gürtel sollte in abgewandelter Form auch bei Dior auftauchen, schließlich durfte Williams für die Sommerkollektion 2019 mit dem für die Herrenmode zuständigen Dior-Chefdesigner Kim Jones in Sachen Accessoires zusammenarbeiten. Danach sollten Anfang 2020 Kooperationen mit Nike und Moncler folgen.
Vor allem das Interesse von Williams für nachhaltige und langlebige Mode, für einen Brückenschlag zwischen Streetwear und traditioneller Handwerkskunst gepaart mit Maßschneiderei sowie für komplexe technische Herstellungsprozesse machte in der Branche schnell die Runde. Auch das Tüfteln an neuartigen Stoffen beispielsweise mithilfe des italienischen Textilspezialisten Maiocci gehört inzwischen zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Und für seine Entwürfe vertraut er auf eine fortschrittliche 3D-Technologie, womit er in Designer-kreisen zur Speerspitze der digitalen Zukunft zählen dürfte.
Entwürfe mit 3D-Technologie
Mit seiner Alyx-Sommerkollektion 2019 tauchte er erstmals auf einer Fashion Week auf, und zwar in Paris, wo er nach Umbenennung seines Labels von „Alyx" in „1017 Alyx 9SM" (unter Verwendung seines Geburtsdatums, des Namens seiner Tochter sowie der Kurzadresse seines ersten New Yorker Studios) in einem Kombi-Event sowohl seine neuesten Herren- als auch Damenkreationen vorgeführt hatte. Dabei waren viele Klamotten wie enge Hosen und Tops aus Leder beziehungsweise aus Vinyl in Wetoptik oder Jeans und Cargohosen mit frei liegenden Gurten und Riemen unisex geschneidert. Auffällig auch die Verwendung von ungewöhnlichen Materialien wie künstlichem Schlangenleder, straußenhautähnlichem Leinen oder von mit Strass besetztem Lycra.
Mit massentauglicher, unkompliziert-preisgünstiger Streetwear hatte das nichts mehr zu tun, eher schon mit Streetwear de luxe, wobei auf Provokationen zwar nicht verzichtet wurde, aber selbst diese der absoluten Vorgabe der Alltagstauglichkeit untergeordnet war. Die Analyse der auch wieder stark unisex oder gender-neutral ausgerichteten Pariser Show von Alyx für Herbst/Winter 2019/2020 förderte einen weiteren Vormarsch des luxuriösen Elements zutage, wofür vor allem Glitterdetails verantwortlich waren. Bei der Sommerkollektion 2020, die als eine technische Tour de Force mit jeder Menge futuristischer Kreationen samt Hightech-Layering beschrieben wurde, war neben den schon typischen Unisex-Entwürfen auch eine stärkere Abgrenzung zwischen Mens- und Ladyswear zu erkennen. Wobei den Damen hautenge schwarze Kleider, Radlerhosen oder Zipper-Röcke schmackhaft gemacht wurden, während den Herren Military-Westen oder coole Trenches gefallen sollten.
Alles fraglos beachtliche Leistungen. Sie allein lassen jedoch nicht unbedingt verständlich werden, warum LVMH ausgerechnet Matthew Williams als Nachfolger der in der Szene hochgeschätzten und im April 2020 nach drei Jahren geschassten Clare Waight Keller (übrigens der ersten Frau in dieser leitenden Funktion in der Givenchy-Historie) für den kreativen Chefposten ausgewählt hatte. Auch nicht, wie Williams andere prominente Namen ausstechen konnte, die gerüchteweise in der Lostrommel gehandelt wurden, wie Julien Dossena von Paco Rabanne oder das Ehepaar Lucie und Luke Meier von Jil Sander. Die einzig sinnvolle Erklärung scheint im Beschluss einer radikalen stilistischen Kurskorrekter durch die LVMH-Konzernspitze zu liegen. Der elegant-romantische Ansatz von Clare Waight Keller, der eher an die vornehmen Gründungszeiten des Hauses mit der richtungsweisenden Entwicklung des Kleinen Schwarzen erinnert und der mit Meghan Markles Brautkleid im Jahr 2018 wieder einen viel bewunderten Höhepunkt erreicht hatte, schien den Givenchy-Bossen offenbar nicht mehr zeitgemäß und vor allem nicht mehr Erfolg versprechend zu sein. Vermutlich wird man sich nostalgisch an die zwölf ziemlich erfolgreichen Jahre zurückerinnert haben, in denen Kellers Vorgänger Riccardo Tisci die Geschicke von Givenchy gelenkt hatte. Tisci hatte sich bei seinen Entwürfen für die Herren- und Damenmode gleichermaßen von Streetwear und Subkulturen wie den Goths oder den verschiedensten Ausprägungen des Rock ’n’ Roll inspirieren lassen. Damit sollte der anfängliche Nobody schnell zu einem Umsatzbringer für die Marke mit Kreationen wie den Rottweiler-Pullovern in der Menswear oder mit dem schwarzen Panther-Print sowie den Shark-Boots samt heruntergeklapptem Schaft in der von ihm mit reichlich Sex-Appeal aufgeladenen Ladyswear werden.
Eng in der Szene vernetzt
Die Ernennung von Matthew Williams bedeutet daher nichts anderes als Givenchys Rückbesinnung auf die Streetwear, wobei der Designer sein eigenes Label weiterführt, aber seinen Wohnsitz von Mailand nach Paris verlegt hat. Bleibt zu hoffen, dass das Traditionshaus damit endlich das ewige Auf und Ab auf der Suche nach einer dauerhaften Markenprofilierung beenden kann. Das ist ihm seit der Gründung trotz großer Designer-Stars wie John Galliano oder Alexander McQueen bislang nie so richtig gelungen. Alexander McQueen hatte dieses Problem in den 90er-Jahren schon mal ganz offen angesprochen, als er der Marke das Fehlen eines unverkennbaren Signature-Styles vorgeworfen hatte. Man darf gespannt sein, ob Matthew Williams diese DNA-Lücke des Labels füllen kann, vor allem auch, ob er nicht nur in der für das Haus enorm wichtigen Menswear, sondern auch in der Givenchy-Damenmode die nötigen Akzente wird setzen können.
Profitieren könnte er dabei von seinem weit verzweigten und sehr engen Netzwerk zu prominenten Designer-Kollegen wie Kim Jones, Hedi Slimane, Nicola Formichetti oder Heron Preston sowie zu Mega-VIPs wie Kanye West, Kim Kardashian, Nick Knight oder Lady Gaga. Denn im künstlerischen Umfeld all dieser Namen hat sich Matthew Williams nach und nach zu einem Selfmade-Designer entwickelt, dem jegliche klassische Ausbildung an einer Modeschule fehlt. Learning by Doing lautete denn auch sein Motto. Denn nach einer Stippvisite im Fach Kunst an der University of California versuchte er sich zunächst einmal im Entwerfen von Bühnenkostümen, wobei ihm nach eigenem Bekunden die häufigen Besuche in angesagten Clubs von Los Angeles als Klamotten-Inspirationsquellen dienten. Im Jahr 2007 gelang ihm der Sprung in das Kreativteam von Kanye West, schon ein Jahr später wurde er von Lady Gaga verpflichtet, um deren Showklamotten zu gestalten. 2012 engagierte er sich an der Seite von Virgil Abloh, Heron Preston und Justin Saunders im als spielerischem Kunstprojekt angelegten Streetwear-Kollektivlabel Been Trill. 2015 gründete er schließlich sein eigenes Markenunternehmen, nachdem er von den coolen kreativen Mitstreitern das nötige Wissen fürs Kleidermachen erlernt hatte.