Wie „Open Source Intelligence" unseren Blick auf Kriege verändert
Der Ausbau der Mobilfunknetze und die weite Verfügbarkeit von Smartphones mit sehr guten Aufnahmequalitäten für Foto und Video haben schon seit geraumer Zeit Einfluss auf die Berichterstattung über bewaffnete Konflikte. Es ist nicht länger der Vorbehalt der Medienhäuser, uns – oft redaktionell bearbeitete – visuelle Eindrücke aus Kriegsgebieten zu präsentieren. Wir sehen jetzt mehr, manchmal alles, manchmal vielleicht sogar zu viel und vor allem: ungefiltert.
Der Krieg in der Ukraine ist ein gutes Beispiel dafür. Vor Beginn des Krieges benutzten mehr als 80 Prozent der Ukrainer ein Smartphone, bei den unter 35-Jährigen im Grunde jeder. Das Mobilfunknetz, obgleich immer wieder stark beeinträchtigt, funktioniert in weiten Landesteilen relativ stabil weiter – nicht zuletzt verstärkt durch Installationen wie Starlink-Server. Die Berichterstattung ist sowohl den Kriegsparteien wie auch den Medien teilweise aus der Hand genommen, und viele, die sich für den Verlauf der Kämpfe interessieren, sich aber keine unkommentierten Gräueltaten auf Twitter oder Reddit anschauen wollen, wenden sich „Open Source Intelligence"-Experten zu.
OSINT ist ein plötzlich für viele sehr vertrautes Kürzel geworden, denn hier analysieren Fachjournalisten, Akademiker und viele ehemalige Militärs das weithin verbreitete Video- und Bildmaterial und ziehen ihre Schlüsse daraus. Im Gegensatz zu den offiziellen Verlautbarungen sind viele dieser „Militär-Nerds" vor allem daran interessiert, die Faktenlage zu verbreitern und sicher zu machen. Der Twitter-Account von „Oryx" etwa hat seit Beginn der Kämpfe nichts anderes getan, als sämtliche visuellen Belege von zerstörten Kriegsgeräten zu katalogisieren und aufzubereiten, um eine Verluststatistik zu führen – eine Arbeit, auf die nunmehr viele offizielle und inoffizielle Analysten zurückgreifen.
Auf der Basis von OSINT bewerten ehemalige Militärs die taktischen und strategischen Entscheidungen sowie die Effektivität von Waffensystemen und bereiten diese Erkenntnisse – manchmal dem Medium geschuldet, das sie dafür nutzen – in konziser und für den Laien nachvollziehbarer Form auf. Wer also tatsächlich wissen will, wie der Krieg abläuft und wie die Chancen der Kriegsparteien sind, hat eine zunehmend solide, wenngleich in manchen Bereichen gewiss weiter lückenhafte Datensammlung vor sich.
Für die Art und Weise, wie wir Kriege wahrnehmen, hat das verschiedene Konsequenzen. Journalisten, die recherchieren wollen, müssen nicht wie früher notwendigerweise selbst an die Frontlinien reisen, um einigermaßen fundierte Beiträge zum Kriegsgeschehen veröffentlichen zu können. Fachexperten bekommen zeitnahe und umfangreich illustrierte Hinweise darauf, wie ihre eigenen theoretischen Einschätzungen sich in der Realität beweisen oder eben nicht. Das allgemeine, aber interessierte Publikum kann Tag und Nacht auf dem Laufenden bleiben.
Das kann im positiven Falle zu einer allgemeinen Erhöhung der Erwartungssicherheit und der Qualität der öffentlichen Diskussion führen. Im negativen Falle führt es zu psychischen Belastungen durch permanentes „Doom-scrolling" und zu einer selektiven Aufnahme von Informationen. Wenn man unbedingt will, dass eine bestimmte Seite gewinnt, sucht man sich zudem seine Quellen nach dem „confirmation bias" aus: Man nimmt jene, manchmal auch unbewusst, stärker wahr, die die eigene Sicht der Dinge bestätigen, als jene, die dieser entgegensprechen. In ganz negativen Fällen führt dieses Aufnahmeverhalten direkt in die Hände der Propaganda, die sich der entsprechenden sozialen Medien selbstverständlich ebenfalls bedient. Für die Kriegsparteien selbst kann es dazu führen, dass die Gegenseite wichtige taktische Informationen erhält, die man lieber für sich behalten hätte.
OSINT aber ist da und wird bleiben, so lange in Kriegsgebieten genug einfache Soldaten und Zivilisten mit funktionsfähigen Smartphones herumlaufen. Es gibt daher weniger Überraschungen und mehr Möglichkeiten, Lügen als solche zu entlarven, vor allem, wenn neutrale Expertise das gesammelte Material beurteilt. Das ist, alles in allem, verantwortungsvoll genutzt eher eine gute Entwicklung.