Ende 2022 sollen die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz gehen. Manche halten das für einen Fehler. Jo Leinen vom Nationalen Begleitgremium (NBG) der atomaren Endlagersuche beschäftigt eine andere Frage: Wohin mit 30.000 Kubikmeter Atommüll?
Herr Leinen, warum wurde die Frage nach der Endlagerung von Atommüll auf so viele Ebenen und Gremien verteilt?
Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Vor 40 Jahren wurde am grünen Tisch entschieden, ein Atommülllager im Salzstock Gorleben zu bauen. Das wurde auf kaltem Wege entschieden, wahrscheinlich weil Gorleben an einem dünn besiedelten Gebiet an der ehemaligen DDR-Grenze lag, weit weg von den Ballungszentren und den bevölkerungsreichen Regionen. Der Salzstock war allerdings nicht untersucht worden, und dann hat sich herausgestellt, dass Gorleben eigentlich gar nicht geeignet ist, um radioaktiven Müll für eine Million Jahre zu lagern. Das ist die schlechte Erfahrung aus der Vergangenheit. Daraus wollte die Politik mit einem völlig neuen Ansatz, einem Neuanfang, lernen.
Wie sah dieser Neuanfang aus?
Neu war zum einen das Standortgesetz, das der Bundestag in einer ganz großen Mehrheit, von der CSU in Bayern bis zu den Linken, über das gesamte politische Spektrum hinaus beschlossen hat. Der Neustart für die Suche nach einem atomaren Endlager soll nach fünf Kriterien erfolgen, die in dem Standortgesetz verankert wurden. Das Verfahren soll transparent, partizipativ, wissenschaftlich unterlegt, selbst hinterfragend und selbst lernend sein. Dies soll sicherstellen, dass das Suchverfahren sehr objektiv, sachorientiert und unter breitestmöglicher Beteiligung der Öffentlichkeit vorangeht.
Nach welchen Kriterien werden Standorte überhaupt in Erwägung gezogen?
Verantwortlich für das Genehmigungsverfahren für das Endlager ist eine Bundesagentur, das Bundesamt für die Sicherheit der Nuklearen Entsorgung (BASE). Und verantwortlich für die geologische Suche nach einem Endlagerstandort ist die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE). Diese hat nach Auswertung vieler geologischer Daten im Herbst 2020 einen ersten Bericht veröffentlicht und in 90 Regionen Deutschlands potenzielle Untergründe gefunden, die geeignet sein könnten für dieses Endlager. Es kommen drei Gesteinsarten in Frage: entweder Salzstöcke, oder Tonschichten, oder Granitberge. Nach dem Gesetz soll so ein Endlager in einem Bergwerk 500 Meter unter Tage gebaut werden. Das Endlager muss in einem Gebiet gefunden werden, was schon über lange Zeit sehr stabil war. Es darf also keine Risse oder Durchlässigkeit für Wasser geben. Es darf nicht in einem Erdbebengebiet liegen oder durch andere Umweltkatastrophen wie Hochwasser beeinträchtigt werden. All diese Eckpunkte werden gründlich überprüft und dann fallen etliche Gebiete raus und andere bleiben in dem Erkundungsverfahren drin. Und so wird Schritt für Schritt überprüft, wo wir Gebiete in Deutschland für den besten Standort finden, der alle Voraussetzungen für eine so langfristige Lagerung von Atommüll mit sich bringt.
Was zeichnet das NBG aus?
Das NBG ist einzigartig in der Geschichte der Bundesrepublik. Eine völlig unabhängige Institution, die völlig frei ist von allen Einflüssen privater oder politischer Art. Ein Gremium mit 18 unabhängigen Personen, die kontinuierlich den Suchprozess beurteilen und dafür Sorge tragen sollen, dass alle Kriterien des Gesetzes erfüllt werden. Das NBG soll zielorientiert Defizite ausfindig machen, beispielsweise bei geologischen Erkundungen oder bei der Information der Öffentlichkeit.
Um wie viel Atommüll handelt es sich konkret?
Hochradioaktiver Abfall ist natürlich der problematischste, weil er von der Strahlung am längsten wirkt und am gefährlichsten ist. Dafür wird dieses Endlager gesucht. Wir haben in Deutschland circa 30.000 Kubikmeter radioaktiven Abfall, die zurzeit in 1.900 Behältern in den Zwischenlagern stationiert sind.
Wie kann man Menschen dazu animieren, sich an einem so hochkomplexen Prozess zu beteiligen und ihm zu vertrauen?
Alle unsere Sitzungen sind öffentlich. Man kann sie quasi im Internet verfolgen oder sogar selbst zu den Sitzungen kommen, was immer wieder etliche Personen tun. Wir reagieren sehr schnell und umfangreich auf alle Anregungen und Anfragen. Also wir wollen keine Lücken lassen in der Bürgerbeteiligung, im Interesse einer breiteren Öffentlichkeit an der Atommülllagerung.
Die Endlagerung des Atommülls ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deshalb gehen wir auch auf Zielgruppen zu, die sich engagieren sollten. Da wäre zum Beispiel der Jugendrat, wo speziell die junge Generation angesprochen wird. Wir gehen auf die Kommunen zu, weil ja letztendlich in irgendeiner Kommune diese Endlagerung stattfinden wird. Und wir fragen sogar nach der Verantwortung der Kirchen, um auch bei ihren Mitgliedern viele für dieses Thema zu gewinnen. Ziel ist es ja, innerhalb der Gesellschaft zu einem breiten Konsens über die Atommüllendlagerung zu kommen.
Wie bewerten Sie die neu aufgeflammte Diskussion um Atomkraft und Versorgungssicherheit in Deutschland?
Deutschland hat sich nach schmerzhaften Debatten entschieden, aus der Atomenergie auszusteigen und die Zukunft bei anderen, weniger gefährlichen und emissionsarmen Energiequellen zu suchen. Das sind alle erneuerbaren Energien und der grüne Wasserstoff. Wir sind auf der Zielgeraden des Ausstiegs aus der Atomenergie zum Ende dieses Jahres. Es macht daher keinen Sinn, jetzt wieder eine Kehrtwende rückwärts zu vollziehen. Da gäbe es einige Probleme mit der Sicherheit der letzten drei in Deutschland sich am Netz befindenden Kernkraftanlagen, die quasi vor dem Abschalten stehen und keine sicherheitstechnischen Nachrüstungen bekommen sollen. Es würde auch zur Verwirrung führen, wenn die Atomkraft wieder ins Spiel gebracht und von den Investitionen abgelenkt wird, die für die erneuerbaren Energien vorgesehen sind. Ich sehe politisch keine Chance zur Renaissance der Atomkraft in Deutschland.
Stichwort Endlagersuche: Sind wir auf einem guten Weg?
Deutschland nimmt sich auf jeden Fall viel Zeit. Die Entscheidung soll am Ende dieses Jahrzehnts fallen. Dann wird das Bergwerk abgeteuft, und es dauert noch länger, bis der Atommüll unter die Erde kommt. Eile ist geboten, weil wir den Müll zurzeit in Zwischenlagern unterbringen, die vielfach problematisch sind. Die Behälter sind für so lange Verwahrdauern nicht ausgelegt. Zudem sind diese in Hallen untergebracht und nicht unter Tage. Es gibt in Europa Länder, die schneller sind als wir. Die Finnen haben ein Atommüllendlager gefunden und sind kurz davor, es in Betrieb zu setzen. Wir sehen, dass auch Schweden sehr weit vorne liegt. Und ich gehe davon aus, dass unsere französischen Nachbarn zügig vorangehen, wenn der Standort festgelegt wurde. Wir sind nicht die Ersten in Europa, aber auch lange nicht die Letzten. In Deutschland haben wir uns entschieden, einen neuen Ansatz mit der Beteiligung aller Akteure zu verfolgen. Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Die Rahmenbedingungen für die Suche nach einem Atommüllendlager sind weitaus besser als in der Vergangenheit. Natürlich können alle immer noch dazulernen. Aber dieser sehr objektive, wissenschaftsbasierte und partizipative Prozess ist das Beste, was bisher institutionell auf die Beine gestellt wurde. Es gibt die Hoffnung, dass am Ende vielleicht immer noch Streit existiert, aber nicht mehr diese hitzige Spaltung der Gesellschaft, die wir in den letzten 40 Jahren bei der Nutzung der Atomenergie sowie beim Salzstock Gorleben erlebt haben.