Atomkraft – Jein danke? Eine alte Debatte wird jetzt wieder neu geführt. Die Energie-Expertin Anke Weidlich ordnet die Argumente ein.
Frau Weidlich, die EU-Kommission stuft Atomkraft neuerdings als umweltfreundliche Technologie ein. Was bedeutet das in der Praxis?
Die EU hat definiert, welche Technologien notwendig sind, um den Übergang zu einem klimaneutralen Energiesystem zu schaffen. Dadurch sind Investitionen in diese Technologien attraktiver. Es können auch zusätzlich EU-Mittel für den Aufbau nach der Pandemie dafür verwendet werden, diese Technologien zu unterstützen. Das macht es für Länder attraktiv, die in Atom- und Gaskraftwerke investieren wollen.
Wie viel Atomkraft brauchen wir denn, um unsere Energieversorgung sicherzustellen?
In der Bundesrepublik sind nur noch wenige Atomreaktoren übrig. Diese haben eine Leistung von insgesamt rund vier Gigawatt, also eher wenig. Darauf können wir hierzulande verzichten, und das passiert ja auch. Ende des Jahres wird das letzte Atomkraftwerk in Deutschland abgeschaltet. In anderen EU-Ländern ist das aber nicht von heute auf morgen möglich, insbesondere in Frankreich. Dort liegt der Atomanteil bei 71 Prozent – das ist weltweit einmalig.
Und in Europa insgesamt?
Etwa ein Viertel des Strommixes in Europa stammt aus Kernenergie.
Wenn also hierzulande die AKWs abgeschaltet werden, kommt dann der Atomstrom aus den Nachbarländern?
Deutschland steht auf jeden Fall sehr stark im Austausch mit den Nachbarländern. Trotzdem ist die Bundesrepublik insgesamt ein Netto-Strom-Exporteur. Das schwankt an bestimmten Tagen und Uhrzeiten aber – je nachdem, wie viel Windenergie zum Beispiel erzeugt wird. Deutschland ist mitten in einem großen europäischen Verbundsystem. Die Stromflüsse von und nach Deutschland ändern sich ständig.
Trotzdem wirbt zum Beispiel die Deutsche Bahn damit, dass ihre Fernzüge mit 100 Prozent Ökostrom führen. Sind solche Behauptungen überhaupt haltbar, wenn der Strom sowieso zusammenfließt?
Es gibt auf jeden Fall Methoden, mit denen sich die Stromflüsse nachvollziehen lassen – daran arbeiten wir auch hier im Institut. Aber klar, an der Steckdose kommt ein Mix an. Wenn man Kunde für erneuerbare Energien ist, wird einem dieser Anteil rein rechnerisch zugewiesen.
Wenn sich immer mehr Menschen für Ökostrom entscheiden, ist am Ende aber trotzdem nicht mehr da, oder?
Bei größerer Nachfrage besteht natürlich auch ein größerer Anreiz, die erneuerbaren Energien auszubauen. Es gibt auch besonders ambitionierte Ökostrom-Anbieter, die ganz klar sagen: Wir beziehen unseren Strom aus kleinen oder neuen Anlagen.
Wer wäre das zum Beispiel?
Hier in der Region haben die EWS (Elektrizitätswerke Schönau, Anm. d. Red.) ein solches Kriterium, um ein Mehr an Ökostrom zu erzeugen. Wählt man einen solchen Anbieter, ist das also tatsächlich mit einem Ausbau von Wasserkraftanlagen oder Windrädern verbunden. Bei den meisten anderen Angeboten handelt es sich um eine Umverteilung, wenn zum Beispiel der Ökostrom aus großen Wasserkraftanlagen kommt, die ihren Strom auch sonst verkauft und eingespeist hätten.
Nun hat sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag zu einem starken Ausbau der erneuerbaren Energien verpflichtet. Brauchen wir da wirklich noch Kohle- oder Atomkraft?
Es gibt viele Studien, wie ein klimaneutrales Energiesystem aussehen könnte. In Deutschland gehen alle Studien davon aus, dass dies auch ohne Atomkraft möglich ist.
In Frankreich sagen die Studien wahrscheinlich etwas anderes?
Frankreich ist ein sehr interessanter Fall, weil das Land auch große Potenziale für erneuerbare Energien hätte, besonders bei Solar- und Windenergie. Wenn man diese Zweige massiv ausbauen würde, könnte Frankreich noch viel mehr zum Stromexporteur werden – oder ganz ohne Kernkraft auskommen. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen, aber die Potenziale sind auf jeden Fall da.
Warum setzt Frankreich dann überhaupt so stark auf Atomkraft? Die meisten Kraftwerke sind doch veraltet und es rechnet sich nur, weil der Staat die Branche massiv subventioniert.
Das ist eben eine politische Entscheidung. Die Kosten-Situation hat sich in den letzten Jahrzehnten verschlechtert. Andere Technologien werden immer billiger, je mehr man davon baut. Kernkraft wird hingegen teurer, weil die Sicherheitsanforderungen steigen. Das sieht man ganz deutlich bei aktuellen Bauprojekten in Finnland und Großbritannien.
Und dann kommen noch die Kosten für die Endlagerung hinzu …
Die werden beim Bau in der Regel nicht eingepreist, aber sie müssten konsequenterweise mitbedacht werden. Wobei die meisten Kosten in den nächsten Jahrzehnten anfallen, also für Planung und Bau der Endlager. Wenn diese dann erst mal befüllt sind, halten sich die Kosten vermutlich im Rahmen. Aber die noch wichtigere Frage ist, wie man über Jahrhunderte und Jahrtausende sicherstellen will, dass dieses Wissen erhalten bleibt – also dass nachfolgende Generationen erfahren, wo diese Lager sind und welche Gefahr von ihnen ausgeht. Darauf gibt es bisher keine Antwort.
Bislang hat Finnland als einziges Land weltweit ein Endlager. Warum kocht jede Nation ihr eigenes Süppchen, statt einen gemeinsamen Ort zu finden?
Da geht es ums Verursacherprinzip: Das Land, das den Atommüll produziert, soll sich auch darum kümmern.
Für wie sicher halten Sie eigentlich Atomkraftwerke?
Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Unfall kommt, ist sehr gering. Wenn aber etwas passiert, dann geht es mit enormen Auswirkungen einher. Das haben wir in Tschernobyl gesehen, aber auch in Fukushima und Three Mile Island (AKW in den USA, bei dem es 1979 zu einer Teilkernschmelze kam, Anm. d. Red.). Für Deutschland gehe ich davon aus, dass unsere Kraftwerke relativ sicher sind.
Und in Europa? Das älteste französische AKW Fessenheim, das 2020 nach jahrzehntelangen Protesten abgeschaltet wurde, liegt in einem Erdbebengebiet.
Alle Eventualitäten kann man natürlich nicht ausschließen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände kann auch in Deutschland passieren.
Kann es denn überhaupt eine nachhaltige Atomkraft geben?
Ich würde Atomkraft nicht als nachhaltig bezeichnen. Die Wissenschaft ist sich einig, dass zukünftige Energiesysteme ohne Kernkraft auskommen können. Sie kann zwar einen Beitrag zum Klimaschutz leisten, aber sie bleibt eine Risikotechnologie. Es ist technisch möglich, ohne Atomkraft auszukommen und trotzdem klimaneutral zu werden. Dafür müssen aber sehr viele Veränderungen gleichzeitig passieren. Auch das verlangt der Gesellschaft einiges ab.
Welche Veränderungen meinen Sie?
Die Mobilität muss sich ändern. Die Windkraft muss massiv ausgebaut werden. Wir brauchen neue Stromtrassen und müssen unser Konsumverhalten ändern, auf Dinge verzichten. Nur so können wir die Klimaziele erreichen. Doch selbst wenn wir die Atomkraft dafür einsetzen, hätten wir ein weiteres wichtiges Problem: Denn bis eine neue Anlage geplant und gebaut ist, vergehen Jahrzehnte. So ist es auch mit Hoffnungsträgern wie Thorium-Reaktoren (bei denen weniger Atommüll anfällt, Anm. d. Red.). Diese Technologien sind noch in der Entwicklung. So viel Zeit haben wir aber nicht, um die Klimaziele zu erreichen.
Glauben Sie, die Atomkraft wird durch das EU-Nachhaltigkeitslabel nun einen neuen Boom erleben?
Ich glaube nicht. Die Länder, die den Atomausstieg schon beschlossen haben, werden jetzt nicht einfach eine Kehrtwende machen. Trotz der Taxonomie bleibt Atomkraft eine sehr teure Energieform.
Was bedeutet das am Ende für den Strompreis? Ist Atomenergie billiger oder teurer als erneuerbare?
Der Strompreis, der an der Strombörse generiert wird, basiert immer auf den Betriebskosten. Die sind bei beiden Energieformen niedrig. Deshalb erwarte ich keine großen Unterschiede. Die langfristigen Kosten, zum Beispiel für Endlagerung, werden beim Strombörsenpreis nicht eingerechnet.
Was für die Atomkraft spricht, ist die geringere Abhängigkeit vom Ausland, zum Beispiel von russischem Gas. Wie sehen Sie das?
Aus Sicht der Versorgungssicherheit schneidet Atomkraft besser ab als Kohle, die ja klimatechnisch hoch problematisch ist. Wir brauchen eine flexible Energieform, die auch dann funktioniert, wenn einmal kein Wind weht oder die Sonne scheint. Langfristig sind dafür aber eher Gaskraftwerke geeignet, die mit Wasserstoff laufen. Aber daraus könnten sich neue Abhängigkeiten ergeben …
… weil der Wasserstoff ja auch erst mit Strom erzeugt werden muss?
Genau, und zwar am besten mit erneuerbaren Energien. Da kann man davon ausgehen, dass das nicht zu 100 Prozent in Deutschland stattfinden wird. Also müssen wir Wasserstoff importieren. In einem klimaneutralen Energiesystem sind wir nicht mehr von Russland abhängig, sondern von den Ländern, die Wasserstoff liefern. Und wir müssen natürlich unsere eigenen erneuerbaren Energien stark ausbauen.
Gleichzeitig gibt es Bundesländer wie NRW, in denen Windräder mindestens einen Kilometer von Wohnhäusern entfernt stehen müssen. Wie soll da ein Ausbau gelingen?
Bei allen Szenarien, über die wir hier sprechen, ist es zwingend erforderlich, den Ausbau ganz stark zu steigern. Bundeswirtschaftsminister Habeck hat’s ja gesagt: „Wir sind viel zu langsam". Natürlich müssen auch solche Dinge wie Abstandsregelungen diskutiert werden. Dagegen gibt es Widerstand, aber am Ende ist klar: Man kann nicht gegen alles sein. Wer keine Atomkraft will, muss sich beim Ausbau der Erneuerbaren bewegen.