Alles kommt und geht, nur das Jetzt bleibt
Wir müssen lernen, wieder mehr im Jetzt zu leben." Diesem Spruch bin ich vor Kurzem im Web begegnet. So weit nicht überraschend, denn wer begegnet in Zeiten, in denen jeder Zweite Achtsamkeit zum Lieblings-Hobby hat, einem solchen Spruch nicht? Egal. Weiter. Im Grunde ist die Aussage ja gut gemeint. Was also stört mich an dieser Formulierung? Nun, vermutlich die Tatsache, dass sie schlichtweg nicht stimmt. Dazu muss ich vielleicht ein wenig ausholen und es tut mir leid, wenn wir nun ein wenig in die Untiefen der Spiritualität abgleiten.
Ich kann mit Bestimmtheit behaupten, dass wir nicht lernen müssen, wieder mehr im Jetzt zu leben. Ich gehe sogar noch weiter: Niemand kann lernen, wieder mehr im Jetzt zu leben, weil niemand von uns – Sie nicht, ich nicht und Sie dahinten schon mal gar nicht – jemals etwas anderes als das Jetzt erlebt hat. Man kann gar nicht nicht im Jetzt leben. Wenn wir uns rein auf unsere unmittelbare Erfahrung berufen, stellen wir fest, dass es keine Vergangenheit gibt, dass es keine Zukunft gibt – kurz: dass es keine Zeit gibt. Uff!
Klar, jetzt heißt es gleich wieder: „Der Krauß hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Bin ich nicht um 6 Uhr aufgestanden? Habe ich nicht um 7 Uhr gefrühstückt? Habe ich danach nicht stundenlang gearbeitet?" Sicher. Doch, doch. Aber das ist kein Beweis für die Existenz von Zeit. Fragen Sie sich: „Was ist meine tatsächliche Erfahrung?" 7 Uhr heute Morgen ist jetzt ja nur noch der Gedanke an 7 Uhr heute Morgen. Und der findet jetzt statt. Und dann ist selbst dieser Gedanke schon wieder weg. Alles kommt und geht, nur das Jetzt bleibt. Es ist das verbindende Element.
Zugegeben: Behauptet man, niemand von uns habe jemals die Vergangenheit erlebt, klingt das befremdlich. Doch es stimmt: Kein Mensch hat jemals etwas anderes erfahren als das Jetzt. Und das sind nicht viele einzelne kleine „Jetzte". Es ist ein einziges andauerndes Jetzt. Das Jetzt ist das, was unserer Existenz zugrunde liegt. Ohne Jetzt kein Sein.
Das soll im Übrigen nicht heißen, dass Zeit als Konzept nicht hilfreich wäre. Im Gegenteil. Wenn ich mich mit einem Freund um 15 Uhr verabrede, halte ich es für durchaus angebracht, dass sich beide Parteien an die Zeit halten. Was aber ist nun Zeit, wenn es sie ja eigentlich nicht gibt? Da haben sich viele Menschen in Philosophie, aber auch spirituelle Lehrende dazu geäußert. Eine treffende Formulierung in diesem Zusammenhang stammt von Rupert Spira. Der sagt (ich paraphrasiere hier): „Zeit ist Ewigkeit, betrachtet durch einen endlichen Geist." Und mit dem „endlichen Geist" meint er Sie und mich und, ja, Sie dahinten auch – kurz und gut: alle menschlichen Wesen. Unser endlicher Geist sei wie ein Prisma, das Ewigkeit bricht und auffächert, damit wir sie wahrnehmen und managen können. Dieser endliche Geist, so die Lehre, sei aber nicht unser wahres Ich.
Solange wir uns also mit diesem endlichen Geist identifizieren, sprich: wenn wir sagen: Ich bin diese Gedanken, ich bin dieser Körper, diese Gefühle und so weiter verschleiern wir unser wahres, „ewiges" Wesen. Das ist im Endeffekt nicht weniger als die Frage nach dem Ursprung allen Seins oder um es sehr frei nach Konfuzius zu sagen: ziemlich krasser Scheiß! Ich habe Sie gewarnt: Von einem Spruch eines Möchtegern-Mindfulness-Aktivisten sind wir zu den profundesten Fragen abgeglitten, die es vermutlich gibt. Insofern hat der Spruch alles richtig gemacht. Ich würde diesen nach unseren Einsichten jedoch ein wenig modifizieren. Wir müssen also nicht lernen, wieder mehr im Jetzt zu leben. Stattdessen müssen wir verlernen, dem ewig währenden Jetzt mit Ablehnung zu begegnen.
Und wenn Sie aus diesen Erkenntnissen vielleicht auch nichts Tiefgreifendes mitnehmen: Wenn das nächste Mal jemand sagt: „Ich habe keine Zeit", können Sie sich wenigstens sagen: „Stimmt, die gibt’s ja gar nicht." Einfach für den Spaß an der Freude.