Nicht unbedingt bringt man Chemnitz in Verbindung mit Aufbruch und Wandel. Doch die einstige Industriemetropole hat sich zu einer modernen Vorzeigestadt herausgeputzt. 2025 darf sich die ehemalige Karl-Marx-Stadt – neben Nova Gorica – Europas Kulturhauptstadt nennen.
Chemnitz. Sachsens drittgrößte Stadt wird 2025 Kulturhauptstadt Europas. Statt mit barocker Pracht und teurer Hochkultur punktet Chemnitz mit rohen Gegensätzen, reichlich Ideen in leer stehenden Fabrikschlössern und Perlen der klassischen Moderne.
Zu sphärischen Klängen wabern künstliche Nebelschwaden durch ein Birkenwäldchen. Am Tresen des aus rohem Holz gezimmerten „Raskolnikov“ warten ein paar junge Leute auf ihr Getränk. Ein junger Mann steigt tropfend aus dem hellblau leuchtenden Schwimmbecken. „Baden auf eigene Gefahr“ hat jemand mit schwarzem Lack auf ein Brett gepinselt und an einen Baumstamm neben dem Pool genagelt.
Während sich der Himmel über der Stadt langsam violett färbt, leuchten gelbe, grüne und blaue Scheinwerfer die Nacht über Chemnitz ein. Rissige, grau-braune Fassaden verfallender Fabrikbauten reflektieren das bunte Licht. Jahrzehnte des Stillstands haben den Putz von den Mauern gefressen.
„Es ist Zeit hierher zu ziehen“, sagt Eva, die junge Künstlerin mit den kurzen blonden Haaren. Verträumt blickt die junge Frau ins Leere, während sie von ihrem Kunststudium in Weimar und ihrer Jugend in Dresden erzählt. „Dort ist alles fertig, die Menschen sind satt.“ Kultur werde den Besuchern in der Landeshauptstadt vor die Nase gesetzt. Und hier? „Schauen die Leute, wo sie sich einbringen und helfen können.“
Acht Schaukeln in einem Achteck
„Ordnung ist das halbe Leben, Schaukeln die andere“, hat Eva ihr Kunstwerk genannt, das in einer Fabrikhalle hängt: Acht in einem Oktagon angeordnete Schaukeln, die zusammenstoßen, wenn die Nutzer nicht aufeinander achten. Zwei Wochen musste sie zeichnen und rechnen, bis sie die Anordnung genau so hinbekommen habe. Seit Tagen beobachtet Eva die Besucher der Kunstausstellung „Begehungen“. Sie ist „begeistert von der Achtsamkeit“ der meisten. Einige setzen sich und beobachten, andere schaukeln drauflos. Ihr Werk versteht sie als Modell einer utopischen Gesellschaft, in der Menschen ihr Zusammenleben rücksichtsvoll miteinander aushandeln.
„Eine Macherstadt“, urteilt nicht nur Eva über Chemnitz. „Die Leute drehen sich nicht weg, wenn Du ein Problem hast. Sie schauen in ihren Rucksack oder in ihr Telefonbuch, um Hilfe zu suchen.“
30.000 Wohnungen standen in Chemnitz zu Beginn dieses Jahrhunderts leer. Das einst wegen seiner Maschinenbau-, Motoren- und Textilindustrie „Sächsisches Manchester“ genannte Wirtschaftszentrum drohte zu verfallen. 1945 hatten Bomber das Stadtzentrum in Schutt und Asche gelegt. Bis dato eine der reichsten Städte Deutschlands, hatte Chemnitz damit, wie Stadtführerin Veronika Leonhardt sagt, „seine Seele verloren“.
Sie ist in Karl-Marx-Stadt geboren. Anfang der 50er-Jahre erkor die DDR die Industriemetropole zur sozialistischen Musterstadt: breite Alleen, zehngeschossige Plattenbauten, weite, gepflasterte Plätze und ein neues Wahrzeichen: das Karl-Marx-Denkmal. Der 40 Tonnen schwere und sieben Meter hohe Kopf schaut heute jungen Skatern und Bikern zu, die auf den Betonplatten unter seinem bärtigen Kinn ihre Runden drehen. „Nischel“, sächsisch für Kopf, tauften die Einheimischen ihren neuen, finster dreinblickenden Mitbewohner – einst Symbol der roten Berliner Fremdherrschaft, inzwischen als Wahrzeichen geschätzt und als Motiv auf Schnapsflaschen, Schlüsselanhängern, T-Shirts und sonstigem Nippes vermarktet.
Industrialisierung, Gründerzeit, Jugendstil, Bauhaus, DDR und Postmoderne: Alle Epochen der vergangenen 200 Jahre haben in Chemnitz ihre Spuren hinterlassen. So entstand ein wilder Mix aus emblematischen Bauten der Moderne wie das heutige Museum Gunzenhauser von 1930, das ehemalige Kaufhaus Schocken im Stil der Neuen Sachlichkeit, DDR-Architektur, weitläufige Industrieareale aus dem 19. Jahrhundert und Nachwende-Bauten wie der Glaspalast des Kaufhof, in dessen Fassade sich das Neue Rathaus von 1911 und das wiederaufgebaute alte aus der Renaissance spiegeln.
Zerstörung, Wiederaufbau und Verfall haben neue Möglichkeiten geschaffen: Kunst und Kultur blühen in Industrieruinen wie dem ehemaligen Druckerei- und Verlagsgebäude am Ufer des Flüsschens Chemnitz, das die Stadt renaturieren lässt. Das Weltecho bietet Konzerte, Lesungen, Filmabende, Ausstellungen und Performances für ein hier eher kleines Publikum.
Chemnitz gilt als Metropole der Arbeit. „In Leipzig wird gehandelt, in Dresden das Geld ausgegeben und hier gearbeitet“, zitiert Weltecho-Mitgründer Frank Maibier ein sächsisches Sprichwort. Mit einigen Kollegen sitzt er nach der Finissage einer Ausstellung auf einer Biergartenbank im Innenhof zwischen fünf Etagen hohen Mauern aus dem 19. Jahrhundert.
Kultur und Kunst in Industrieruinen
Mehr als 300.000 Einwohner zählte Karl-Marx-Stadt in der DDR. 60.000 weniger sind es heute. „Ich dachte, die ganze Stadt sei leer“, erinnert sich Agustin Garcia an seinen ersten Eindruck von Chemnitz. „Die Schließung der vielen Großbetriebe muss die Menschen tief getroffen haben“, vermutet der spanische Künstler.
Platz für Kreativität schafft Lars Fassmann. An die 30 leer stehende Häuser und Fabrikgebäude hat der End-Vierziger zusammen mit seiner Partnerin, der Designerin Mandy Knospe, gekauft. Die meisten waren schon zum Abriss freigegeben: undichte Dächer, brüchige Zwischendecken, zerschlagene Fenster. Fassmann erwarb sie zum Grundstückspreis und ließ nur das Nötigste wie Dach und Leitungen reparieren. Statt Laminat zu verlegen und neue Türen einzubauen, renovierte er, wo möglich, die alten. „Das ist auf die Dauer kostengünstiger.“ Die Gebäude vermietet er zu moderaten Preisen an Künstler und andere Kreative.
Im einstigen Arbeiterviertel Sonnenberg sind inzwischen die meisten Mietskasernen aus der Kaiserzeit saniert. Noch vor fünf Jahren standen hier ganze Straßenzüge leer. Junge Leute haben Clubs, Geschäfte und Galerien eröffnet. Soziale Initiativen kümmern sich um das Gemeinschaftsleben. Im Keller des Stadtteilzentrums hat der Leihladen KarLeiLa eröffnet. Wer etwas braucht, kann sich die von Anwohnern gespendeten Sachen hier kostenlos ausleihen.
Fassmann kaufte hier Häuser für ein paar Tausend Euro, um sie vor allem an Künstlerinnen und Künstler zu vermieten. In der Zietenstraße ist unten eine Galerie eingezogen und nebenan der Späti, eine Mischung aus Kiosk, Getränkeladen und Club: rohe Wände, Getränkekisten, einfache Regale und ein bisschen Platz zum Tanzen. „Den betreiben Studenten“, erzählt Fassmann am Rande des jährlichen Sonnenberger Kultur- und Statteilfests „Hang zur Kultur“.
Als Wohltäter versteht sich der Unternehmer nicht – eher als jemand, der langfristig rechnet. „Künstler“, überlegt Fassmann, „sind Leute, die Ideen haben. Sie bringen die Stadt weiter“. So entstehe eine Dynamik, die neue Interessenten anlocke. „Wir investieren in unsere eigene Lebensqualität“, ergänzt Mandy Knospe – und in den Wert der Immobilien.
Lange galt Chemnitz als sterbende Stadt. Inzwischen ist die Abwanderung gestoppt. Neue Unternehmen wie Fassmanns IT-Firma Chemmedia brauchen Fachkräfte. Die Arbeitslosenquote ist auf unter acht Prozent gesunken.
An einem 14-stöckigen Plattenbau aus DDR-Zeiten preisen haushohe Banner Mietwohnungen an. Mit durchschnittlich 5,28 Euro je Quadratmeter kalt hat Chemnitz die günstigsten Mietwohnungen aller deutschen Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern.
In den letzten Jahren jedoch dränge auch in Chemnitz „immer mehr Anleger-Geld auf den Immobilienmarkt“, berichtet Fassmann. Die Preise hätten sich mehr als verzwanzigfacht. Er zeigt auf ein graues vierstöckiges Gründerzeit-Mietshaus auf dem Sonnenberg. Ein solches koste heute zwischen 300.000 und 500.000 Euro. Wenn man es dann für 600.000 bis 800.000 Euro saniere, käme man immer noch auf einen vernünftigen Quadratmeterpreis von 2.000 Euro.
„Brühl Boulevard“ steht in verblassenden schwarzen Buchstaben über der einst beliebtesten Einkaufsstraße der Region – damals ein Vorzeigeprojekt der DDR-Stadtplaner. Nach der „Wende“ verfiel das Viertel, bis Leute wie Guido Günther kamen. Der junge Mann mit den langen Haaren und dem Vollbart hat mit ein paar Freunden „Rebel Art“ gegründet. Im Auftrag von Firmen, Hausbesitzern und Kommunen bemalen sie Fassaden mit bunten Graffitis. „Zunächst konnten die Leute damit nichts anfangen“, erinnert sich Günther. „Inzwischen läuft es gut.“ Als „Brühlpioniere“ bewohnen einige von ihnen über ihren Geschäftsräumen und Ateliers eines der frisch sanierten Häuser am Boulevard.
Inzwischen hat die städtische Wohnungsbaugesellschaft GGG die meisten Gebäude an einzelne Eigentümer verkauft, die sie sanieren. Sechs Häuser hat die GGG für „Projekte“ wie die Brühlpioniere reserviert: Künstlerateliers, Wohngemeinschaften, kleine, kreative Unternehmen. Günther gründete mit seinen neuen Nachbarn und Mitbewohnern dazu eine Genossenschaft, Eckhaus kaufte. Gemeinsam sanierten die Brühlpioniere ihr neues Domizil.
Aus einer ehemaligen Schule ein paar Häuser weiter sendet das freie, nicht kommerzielle Radio T. Das Musikkombinat nebenan stellt jungen Bands Proberäume und Bühnen zur Verfügung.
Günstigste Mietwohnungen
Andere eröffnen ausgefallene Geschäfte. Das „Kombinat Lump“ versteht sich als Galerie und Vermarktungsgemeinschaft für junge Künstler in der Region, und im puristisch mit hellem Holz eingerichteten Laden „Feine Sachen“ verkauft Felix Adler edle Eierliköre aus eigener Herstellung. Die Eier sind ebenso „Bio“ wie die meisten Zutaten der Leckereien im „Café Dreamers“ gegenüber. Hier gibt es das wahrscheinlich beste Shakshuka außerhalb Israels.
Mehr Israel bietet das „Schalom“ ein paar Häuserblocks weiter östlich. Inhaber Uwe Dziuballa ist in Karl-Marx-Stadt geboren und in Belgrad aufgewachsen. Noch vor der „Wende“ kam er zurück, studierte Physik und wurde Pilot der Luftwaffe. In den 2000ern eröffnete er das erste und nach wie vor einzige koschere jüdische Lokal der Region.
Rechtsextremisten haben ihm schon einen Schweinskopf vor die Tür gelegt, ihn bedroht und tätlich angegriffen. „Was heißt schon sicher?“, entgegnet der 56-Jährige Fragen nach seiner Angst vor rechter Bedrohung. „Natürlich fühlt man sich nicht sicher, wenn man mit einem Stein beworfen wird.“ Da habe es den einen oder anderen Moment gegeben, in dem er „alles hinschmeißen“ wollte. Doch er und sein Bruder machen weiter, halten durch und erleben in Chemnitz viel mehr Positives als Negatives.
Geschockt haben ihn wie viele in Chemnitz die „Ereignisse“ von Ende August 2018. Nachdem ein syrischer Flüchtling einen jungen Mann im Streit erstochen hatte, hetzte ein rechter Mob vermeintliche oder tatsächliche Ausländer durch die Innenstadt. Jahrelang hatten die Stadt und die meisten ihrer Bürger Neonazis gewähren lassen. Nun könne niemand mehr leugnen, dass Chemnitz „ein Problem mit Rechten“ hat, sagt auch Lars Neuenfeld, Redakteur beim „Stadtmagazin 371“ und ergänzt: „Rechtsradikale waren hier immer schon eine Bedrohung“. Neuenfeld, Jahrgang 1972, musste schon als Jugendlicher oft „rennen“, um den Schlägern zu entkommen. Die Kehrseite sei „eine starke Politisierung der Jugend. Viele engagieren sich für eine tolerante, offene Stadt.“
„2018 hat viele aufgerüttelt“, erinnert sich auch Daniel Dost vom Verein „Die Buntmacher*innen“. Direkt nach den rechten Ausschreitungen versammelten sich Dutzende geschockte Chemnitzer, um etwas gegen die Verrohung und Spaltung in der Stadt zu tun.
Einige schlossen sich zu den „Buntmacher*innen“ zusammen, die seitdem Lesungen, Filmabende, Diskussions- und andere Veranstaltungen organisieren. Entscheidend seien dabei positive Bilder und Angebote, bei denen alle mitmachen können: kostenlos und nicht an typisch „linken“ Orten, die viele „Normalbürger“ nie besuchen würden. Beispiel: Aus ausgedienten Werbebannern für Kulturveranstaltungen nähen Ehrenamtliche „Kollektüten“, die der Verein verkauft. Die waren so gefragt, dass die Leute mit dem Nähen kaum hinterherkamen.
Inzwischen haben sich viele Engagierte wieder ihrem Alltag zugewandt. Nazis gibt es immer noch in Chemnitz, aber sie sind vorsichtiger geworden. „Die wollten den Sonnenberg zu ihrer ‚national befreiten‘ Zone machen“, erinnert sich Lars Neuenfeld. Doch das sei ihnen nicht gelungen.
Nun freuen sich viele politisch und in der Kultur Engagierte auf das Kulturhauptstadtjahr 2025. Im Wettbewerb um den begehrten Titel hat sich Chemnitz gegen Nürnberg, Hannover, Magdeburg, Hildesheim und sogar gegen die glanzvolle Landeshauptstadt Dresden durchgesetzt. „Alle sehen darin eine große Chance“, meint nicht nur Lars Neuenfeld vom „Stadtmagazin“. „Das ist für Chemnitz das größte Ereignis der wahrscheinlich letzten 100 Jahre“ – und auch eine Anerkennung für die vielen, die sich für eine bunte Zivilgesellschaft in der Stadt einsetzen.