Von dicken Mauern geschützt, von der Morgensonne gewärmt: An der Riviera dei Limoni wuchsen einst Zitrusfrüchte in Hülle und Fülle. Die historischen Gewächshäuser prägen bis heute die Dörfer am Nordwestufer des Gardasees. Wer die richtige Adresse kennt, kann hier noch immer hausgemachten Limoncino-Likör kosten.
Wer in Gargnano aus dem Bus steigt, die Nase in den Wind hält und voller Vorfreude schnuppert, riecht erst einmal: nichts. Die Luft schmeckt, wie sie am Rand einer viel befahrenen Straße nun einmal schmeckt. Doch man kann runter zum Wasser und zwei Kilometer immer die Via Rimembranza entlangflanieren, vorbei an all den Villen bis zum Haus von Berto, einem der letzten echten Fischer des Gardasees. Oder man geht in die andere Richtung, den Berg hinauf, durch die steilen Gassen mit dem Kieselpflaster. Hier wie dort wabern dann die ersehnten Düfte über die hohen Mauern – mal süßlich, mal herb, mal fruchtig-frisch.
„Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Kein anderer deutscher Autor hat für seine Italiensehnsucht berühmtere Worte gefunden als Johann Wolfgang von Goethe. Bei seiner achtmonatigen Tour war der Gardasee das Erste, was er von seiner großen Liebe sah. Im Boot schipperte er an der Nordwestküste entlang. Dort fallen die Felsen so steil zum Wasser ab, dass bis in die 1930er-Jahre keine Straße existierte. Der Dichter war von der Szenerie sichtlich beeindruckt. „Der Morgen war herrlich, zwar wolkig, doch bei der Dämmerung still. Wir fuhren bei Limone vorbei, dessen Berggärten, terrassenweise angelegt und mit Zitronenbäumen bepflanzt, ein reiches und sinnliches Ansehn geben.“
Der Name Limone hat eigentlich gar nichts mit Limonen zu tun – die Bezeichnung des Ortes leitet sich vom lateinischen Wort für Grenze ab: limes. Und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs begann dahinter noch Österreich. Passen tut er aber dennoch. Denn einst war hier, am 45. Breitengrad und damit genau in der Mitte zwischen Äquator und Pol, das nördlichste Anbaugebiet für Zitrusfrüchte der Welt. Als „Riviera dei Limoni“ wird seither der Küstenabschnitt zwischen Salo und Limone an der Westseite des Gardasees bezeichnet. An der sogenannten Zitronenriviera gab es einst viele hundert aus Stein, Holz und Glas konstruierte Gewächshäuser für den Anbau von Zitronen. Allein in Gargnano, dem Zentrum, waren es in der Blütezeit im 18. Jahrhundert mehr als 450 der sogenannten Limonaie. Längst leben hier fast alle vom Tourismus, doch noch heute prägen das Ortsbild die Überbleibsel der historischen Anlagen, die sich vom Seeufer die steilen Hänge hinauf ziehen.
Zwei Ernten liefern ihm 20.000 Zitronen in jeder Saison
Eines der wenigen Anwesen, die überlebt haben, und vermutlich das einzige, das noch wirklich traditionell bewirtschaftet wird, ist die Limonaia La Malora. In einem früheren Leben war Fabio Gandossi mal Graveur, Maler und Schauspieler. Doch weil sein Vater nicht mehr so gern auf Zitronenbäume klettert – er ist 83 –, hat der sympathische Mann mit dem Lockenkopf das Geschäft übernommen. Seine Bäume liefern ihm bei zwei Ernten pro Saison etwa 20.000 Zitronen im Jahr. Aber natürlich nur, wenn er sie mit viel Aufwand hegt und pflegt, ihnen die Schädlinge von Blatt und Rinde abhält und sie im Winter vor der Kälte schützt.
„Die Zitronen kamen wohl mit den Franziskanermönchen nach Gargnano, im 13. Jahrhundert“, erzählt Fabio Gandossi. Am Nordwestufer des Gardasees gibt es zwar kein mediterranes Klima, aber besondere Bedingungen. Mächtige Felsen halten den Nordwind ab, der tiefe See sorgt für milde Temperaturen im Winter, die Morgensonne für Wärme nach kalten Nächten. „Den Zitronen reicht das aber nicht“, meint Fabio Gandossi, und er klingt, als handele es sich um verzogene Kinder: „Sie mögen keinen Frost“. Um nicht in einer einzigen Nacht die ganze Ernte zu verlieren, mussten sich die Bauern also etwas einfallen lassen. Die Hobbygärtner der Region setzen nach den milden Wintern der vergangenen Jahre inzwischen auf das Prinzip Hoffnung – sie decken ihre Bäume nicht mehr ab. Fabio Gandossi aber kann sich das nicht leisten, er lebt noch immer von den Zitronen und dem aus den Schalen gewonnenen Limoncino-Likör. Und so arbeitet die Limonaia La Malora nach derselben Methode wie bei ihrer Gründung im 16. Jahrhundert.
Jetzt im Sommer haben die viereckigen Steinpfeiler in den Terrassen und die quer eingezogenen Balken keine Funktion. Ab Mitte November aber trägt die altertümliche Konstruktion die Holzlatten und Glasfenster, mit denen sich der Garten in ein Gewächshaus verwandelt. Und sollte die Wetter-App ausfallen, gibt es auf jedem Feld noch ein natürliches Thermometer, nämlich einen mit Wasser gefüllten Eimer. Bildet sich hier Eis, muss im Gewächshaus ein Feuer entfacht werden, um die Temperatur wieder über den Gefrierpunkt zu heben.
Wozu der ganze Aufwand? In den Fischerdörfern am Gardasee hatte man für Tonnen an Zitronen einst keine Verwendung. Doch gleich hinter Limone begann noch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Österreich. Heute ist hinterm Berg zwar immer noch Italien. Da dort aber die Provinz Brescia endet, endet auch der spektakulär über dem Wasser verlaufende Radweg abrupt – und man muss wieder zusammen mit den Autos durch die engen Tunnel strampeln. Damals, als es noch keine Straßen gab, brachte der Südwind Ora die Ernte ans Nordufer des Gardasees. Von dort aus gingen die Kisten bis nach Sankt Petersburg: Ganz Nordeuropa gierte nach den Vitaminbomben vom Gardasee. Handelsvertreter priesen die „medizinischen Qualitäten“, die „wohlschmeckende Säure“, das „fruchtige Aroma von Saft und Schale“ und die „längere Dauer ihrer Frische“. Es war ein gutes Geschäft, zumindest für die Adelsfamilie Bettoni. Wie profitabel der Handel war, sieht man an dem riesigen Palast am Seeufer.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts aber kam es knüppeldick. Krankheiten, bessere Transportwege aus Süditalien, die Entdeckung der künstlichen Zitronensäure brachten den Anbau zum Erliegen. Heute spielt der Zitronenanbau am Gardasee keine Rolle mehr, schon gar nicht in Limone. 1.150 Einwohner leben hier, doch der Ort hat 7.000 Gästebetten und 1,3 Millionen Übernachtungen im Jahr. Doch immerhin gibt es mit der restaurierten Limonaia del Castèl einen Schaugarten mit 20 Sorten. Neben Zitronen wachsen hier auch Mandarinen, Bitterorangen, Clementinen, Kumquats, kleine Grapefruits und große Pomelos. Auch die Königin der Zitronen ist hier zu finden, die bis zu vier Kilo schwere Zitronatzitrone. Die Sorte „Buddhas Hand“ wird in Asien als Opfergabe verwendet. Was die Privatleute in Limone ernten, geht aber unter der Hand sofort in die Sternerestaurants am Ufer des Gardasees: Dort raspelt man die Schale über ein Steinpilz-Risotto, röstet die Frucht zusammen mit Büffelmozzarella im Ofen oder schneidet sie in hauchdünne Scheiben für ein Zitronen-Carpaccio.
Ganz Nordeuropa gierte nach den Vitaminbomben
Woher aber stammen die Zitronen für all die gelben Bonbons und Seifen, die in den Souvenirläden verkauft werden? Sicher nicht vom Gardasee, dafür ist die Produktion inzwischen viel zu klein. Auch beim Limoncino-Likör muss man die Etiketten genau lesen – und lässt von künstlich aromatisiertem Zuckerwasser besser die Finger. Hotelbetten sind eben profitabler als Zitronenhaine. Nicht wirklich charmant, aber erfrischend ehrlich bringt es ein Guide auf den Punkt: „Für eine Zitrone bekommt man zehn Cent. Mit einem Touristen verdient man 100 Euro. Und wenn man ihn richtig auspresst, sind es sogar 150 Euro.“
Aber es gibt auch noch echte Handwerker, die eine Tradition als Verpflichtung sehen. Es sind Leute wie Fabio Gandossi in Gargnano. Fünf Euro verlangt er für einen Rundgang in seiner Limonaia La Malora, dafür gibt es neben dem Seeblick auch noch eine Verkostung zusammen mit dem Maestro. Seine Limoncino-Liköre (anders als in Süditalien spricht man am Gardasee nicht von Limoncello) kommen übrigens ohne zugesetzte Aromen aus und mit deutlich weniger Zucker als die Massenware. „Limoncino muss man gar nicht eiskalt trinken, sondern bei Zimmertemperatur“, sagt der Experte. „Nur dann schmeckt man die Nuancen.“ Und auch der Alkoholgehalt kann niedrig sein, wenn nur die Zutaten stimmen.
Wer Glück hat und im Frühling und Herbst die Ernte miterlebt, sieht die Familie, wie sie die Schalen der Zitronen mit dem Kartoffelschäler abraspelt. Ganz dünn sind die Stücke, weil nur die oberste Schicht der Schale verwendet wird, nicht das weiße Mesokarp und nicht das Fruchtfleisch, aus dem das Team Sirup und Marmelade kocht. „Die ätherischen Öle, die für die Aromen der Zitronen sorgen, stecken eben in der Schale“, erklärt Fabio Gandossi. Deswegen verwendet er keine konventionellen Spritzmittel und bewirtschaftet den Garten biologisch.
Signor Gandossis Familienrezept wird natürlich nicht verraten. Doch so viel ist klar: Erst werden die Schalen in reinen Alkohol eingelegt. Auf einen Liter kommen etwa zwei Dutzend Zitronen, was doppelt so viel ist wie anderswo. Nach ein paar Tagen Mazeration folgt die Verdünnung mit Sirup, für dessen Herstellung auch nicht einfach nur Wasser und Zucker gemischt werden. Ungefiltert wird der Limoncino schließlich abgefüllt. Wobei es, wen wundert’s, natürlich nicht nur einen einzigen gibt. Neben dem Klassiker aus reifen Zitronen füllt Fabio Gandossi auch einen Limoncino aus unreifen grünen Zitronen ab. Der schmeckt etwas weniger fruchtig, dafür aber herber und intensiver.
Der Duft der Zitronenblüten lässt sich zwar beim besten Willen nicht einfangen. Aber den Geschmack Italiens kann man nach der Reise zum Gardasee zurück nach Hause mitnehmen – gut verkorkt in einer kleinen weißen Flasche.