Die eine hat schon viele Jahrtausende auf dem Buckel, die andere ist deutlich kleiner und hofft auf den „Guggenheim-Effekt". Wir stellen die französischen Städte Marseille und Arles und deren Vorzüge vor.
Marseille, die Schöne am Mittelmeer, ist die älteste Stadt Frankreichs und mit mehr als 900.000 Einwohnern die zweitgrößte. Vor 2.600 Jahren wurde sie von griechischen Seefahrern gegründet. Oder war es laut der Legende doch ein Liebespaar: die keltische Prinzessin Gyptis und Prolis aus Kleinasien? Jedenfalls gefiel die große, als Hafen geeignete Bucht den Griechen sofort und bald auch den Römern. Am Ufer entstand der Ort Massalia, die Keimzelle von Marseille. Und alle sind vom Vieux Port, dem Alten Hafen, begeistert, dem historischen und kulturellen Zentrum der Stadt. Dort dreht sich das Leben ebenso munter wie das 55 Meter hohe Riesenrad.
Zahllose Jachten schaukeln umher
Der antike Hafen befand sich jedoch ein Stück weiter, in der heutigen Rue Henri Barbusse, was auf einen anderen Küstenverlauf zu jener Zeit schließen lässt. Erst 1967 entdeckte man ihn und ein 23 Meter langes Boot aus dem 3. Jahrhundert. Zwischen Grasbüscheln ragen heute noch Mauerreste aus dem Boden. Für die mehrere Millionen Gäste aus aller Welt bleibt jedoch der Vieux Port die Nummer eins der Ausflugsziele. Besonders beeindruckt der Blick von dem Hügel, auf dem im 5. Jahrhundert die Abtei Saint-Victor erbaut wurde, in deren Krypta uralte Schreine und Sarkophage zu sehen sind. Von dort oben leuchtet der Vieux Port schon frühmorgens im Sonnenschein. Zahllose Jachten schaukeln an den Stegen vor den Wohn- und Bürobauten hin und her. Hinter den Dächern ragen die Türme der Kathedrale empor. Weiter rechts fällt ein schlankes blaues Hochhaus auf. Es ist der CMA CGM-Tower, entworfen von der Stararchitektin Zaha Hadid und Hauptsitz eines Seereeders. 2011 war der Turm fertig, schon bevor Marseille 2013 Kulturhauptstadt Europas wurde. Zu diesem Anlass wurde die Stadt deutlich aufgefrischt und modernisiert. Traditionen bleiben jedoch erhalten. Also schnell zur 1781 gegründeten Bäckerei „Le Four des Navettes", um einige dieser „Navettes" zu kaufen, knusprige Stangen in Bootsform mit Orangengeschmack, gebacken nach einem Familienrezept. Sie stärken beim Treppauf zur Wallfahrts-Basilika Notre-Dame de la Garde, die auf einem 161 Meter hohen Hügel thront.
Etwa zwei Millionen Menschen aus vielen Ländern besuchen pro Jahr die mit farbenprächtigen Mosaiken, Engelsfiguren und Votiv-Platten geschmückte Kirche. Vom hohen Glockenturm schaut eine vergoldete Maria mit dem Jesuskind schützend über den Alten Hafen. Wieder dort angekommen lockt der Quai de la Fraternité, wo die Fischer jeden Morgen ihren Fang verkaufen. Berufstätige eilen derweil durch den Schatten spendenden Pavillon Ombrière Foster, dessen Spiegeldecke die Passanten auf den Kopf stellt. Eine Idee des Stararchitekten Norman Foster, der auch das zuvor heruntergekommene Hafenumfeld wieder ansehnlich machte.
Am selben Kai starten auch die Schiffe, die hinüber zu den Frioul-Inseln fahren. Früher waren sie Quarantäne-Stationen, nun sind sie beliebte Ausflugsziele. Viele verlassen das Boot an der Insel Île d’If und steigen zum Schloss empor, wo angeblich Alexandre Dumas „Graf von Monte Christo" jahrelang gefangen gehalten wurde. Mehr an Natur, aber auch einige Ferienwohnungen und Restaurants, bietet die Nachbarinsel Ratonneau, wo sich niemand am Quarantäne-Krankenhaus Caroline von 1828 auf der Inselspitze stört. Als die Bauten leer standen, zogen die „Marseiller Lichtfreunde" (Nudisten) dort ein. 1929, bei einem Fest mit Schweizer Lichtfreunden, hopsten sie hüllenlos am neo-antiken Sonnentempel. Schwarz-Weiß-Fotos von damals sind im Internet zu finden. Am Inselstrand „Plage de Saint-Estève", einem der schönsten in und um Marseille, ist das aber wohl eher nicht üblich.
Wieder an Land zeigt es sich, dass ein Hauptziel des Kulturhauptstadtjahres 2013 inzwischen weitgehend erreicht ist: den Marseillern das Meer zurückzugegeben. Der Quai du Port auf der Hafen-Nordseite, früher voller Hangars, ist seither zur Flaniermeile mit vielen Restaurants geworden. Direkt am Meer wurde auch das Museum MuCEM (Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée) errichtet. Dieser Glas-Beton-Bau, geplant von Rudy Ricciotti, punktet mit interessanten Ausstellungen und einem charmanten Café mit filigranem Sonnenschutz.
Die Marseiller erhielten ihr Meer zurück
Von dort führt ein Stahlsteg hoch überm Wasser hinüber zur ehemaligen Johanniter-Festung Saint-Jean aus dem 12. Jahrhundert. Nach Bränden sorgte der „Sonnenkönig" Ludwig XIV. für den Wiederaufbau. Aber erst seit dem Kulturhauptstadtjahr können Besucherinnen und Besucher das Fort und die ehemaligen Militärbauten besichtigen. Superb ist auch der Blick von der Festung. Fast zum Greifen nah erscheint die romanische Saint-Laurent-Kirche, die vom Fort auf einem weiteren Stahlsteg hoch über der Autostraße direkt erreichbar ist.
Beim Blick gen Nordosten rücken die große Kathedrale von 1893 im neo-byzantinischen Stil sowie der blau schimmernde, 147 Meter hohe CMA-CGM-Tower von Zaha Hadid näher heran und sind ab der Festung per pedes oder Bus in wenigen Minuten erreichbar. Dort, im Gewerbe- und Geschäftsviertel Euroméditerranée, fällt auch der „Marseillaise Tower" von Stararchitekt Jean Nouvel in den Flaggenfarben blau-weiß-rot auf. Wohntürme sind bezugsfertig oder befinden sich im Bau. Eine Metrostation ließ die Stadt ebenfalls bauen, doch noch wohnen die Marseiller lieber im Stadt-Süden oder im ältesten Viertel Le Panier, auferstanden aus Ruinen.
Ab dem 1. Februar 1943 hatten die deutschen Besatzer dort etwa 1.400 Gebäude gesprengt, nur die erste Häuserreihe blieb stehen und ebenso Marseilles ältestes Haus von 1535, das „Hôtel de Cabre", das weiterhin Gäste empfängt. Nach Kriegsende ließ die Stadt Le Panier wieder aufbauen. Mit den steilen Treppen und engen Gassen, den Lädchen und Galerien wirkt dieses historische Viertel romantisch. Dreck und Drogen sind passé. Marseiller, Migranten und Künstler leben dort und verzieren die Fassaden mit Graffiti. In einer schlichten Pizzeria trifft sich mitunter der Bürgermeister mit Freunden, und im Ex-Armenhospiz Vieille Charité laufen jetzt Ausstellungen und Kurse für Studierende.
Unesco schützt Innenstadt von Arles
Doch die Besiedlungsgeschichte reicht noch viel weiter zurück. Das beweist eine prähistorische, etwa 30.000 Jahre alte Tierzeichnung, die der Taucher Henri Cosquer 1985 in einer Unterwasserhöhle entdeckte, die dann nach ihm benannt wurde (siehe Seite 68). Neben dem Museum MuCEM, in der Villa Mediterrannée, deren Untergeschoss ins Wasser reicht, soll diese Höhle mitsamt den Zeichnungen nachgebildet und in diesem Jahr geöffnet werden. So steht es bereits auf dem weißen Gebäude. Diese sensationelle Ausstellung wird für Marseille sicherlich zum neuen Besuchermagnet, vielleicht sogar zu einem mit „Guggenheim-Effekt". War es doch das 1997 eröffnete, schnell weltbekannte Guggenheim-Museum von Frank Gehry in Bilbao, das die veramte spanische Industriestadt zu einer „Must see"-Adresse machte.
Arles, das rund 83 Kilometer von Marseille entfernte 50.000-Einwohner-Städtchen, hat ebenfalls gute Chancen, Ähnliches mit Gehry zu schaffen – mit dem schillernden, 56 Meter hohen Frank-Gehry-Tower, der am 26. Juni 2021 geöffnet wurde. Darüber hinaus besitzt Arles viele großartige, teils 2.000 Jahre alte Bauten, die schon 1981 in die Unesco-Weltkulturerbe-Liste aufgenommen wurden. So etwa das nach wie vor genutzte römische Amphitheater mit seinen 21.000 Plätzen, über dem nun der Gehry-Turm emporragt. Zu den Highlights gehören auch das antike Theater, die Thermen Konstantins, die Nekropole von Alyscamps und das romanische Kloster Saint-Trophime mit seiner Kirche aus dem 12. Jahrhundert. Insgesamt schützt die Unesco 65 Hektar in der Innenstadt.
Dennoch reichten die Tourismus-Einnahmen nicht aus, um die Schließung des Eisenbahnreparaturwerks und den dadurch verursachten Verlust von Arbeitsplätzen wettzumachen. Retterin wurde die Schweizer Milliardärin Maja Hoffmann, die 2004 die Luma-Stiftung gegründet hatte, die sich um Kunst, Kultur, Umwelt, Bildung, Erziehung und Menschrechte kümmert. 2010 kaufte Maja Hoffmann für zehn Millionen Euro das elf Hektar große Eisenbahngelände, 2014 erfolgte die Grundsteinlegung für die Luma-Parkanlage, genannt „Parc des Ateliers". Den Frank-Gehry-Tower hat sie ebenfalls finanziert. 150 Millionen Euro soll der geschachtelte, leicht schräge Glitzerturm des 92-jährigen Stararchitekten gekostet haben.
11.000 Plättchen leuchten friedvoll
Die 11.000 Edelmetall-Plättchen auf der Fassade leuchten je nach Tageszeit und Wetter in unterschiedlichen Farben, sei es von der Straße her oder beim Blick über den Teich im Luma-Gelände. Ein weiterer Clou ist die Sicht von der offenen Terrasse im neunten Stock über die Altstadt mit dem Amphitheater und bis zur Rhone. Gleich nach der Eröffnung strömten die Architekturfans nach Arles, das nun durch den Frank-Gehry-Tower auf jährlich 300.000 bis 500.000 zusätzliche Besucher hofft – und auf den erwähnten „Guggenheim-Effekt".
Gehry wollte nach eigenen Worten mit seinem Turm eine Verbindung herstellen zum Gemälde „Sternennacht", das Vincent van Gogh 1889 in Arles gemalt hatte. Vom Februar 1888 bis zum Mai 1889 lebte er im sogenannten gelben Haus und schuf in diesen 15 Monaten beachtliche 300 Werke. Kulinarisch kann man im „Drum-Café" zu vernünftigen Preisen genießen und auch abends im Restaurant „L’Oriel" am lebhaften römischen Forum.