Der THW Kiel will beim Final Four in Köln zum fünften Mal die Champions League gewinnen – muss aber auf seinen Star Sander Sagosen verzichten. Im Halbfinale wartet mit dem FC Barcelona ein dicker Brocken.
Der THW Kiel wird mitunter auch als der FC Bayern München des deutschen Handballs bezeichnet. Doch die nationale Dominanz des Rekordchampions bröckelt, den Meister-Titel hat ihm in dieser Saison der SC Magdeburg weggeschnappt. Und auch auf das Losglück, das den Bayern-Fußballern immer wieder nachgesagt wird, können die Kieler Handballer nicht gerade verweisen. Bei der Auslosung zum Final Four in der Champions League am 18. und 19. Juni in Köln hätte es keinen schwierigeren Halbfinalgegner geben können als den FC Barcelona. „Für uns geht es nun gegen den Titelverteidiger – das ist eine höchst anspruchsvolle Aufgabe", kommentierte Geschäftsführer Viktor Szilagyi das Hammerlos.
Nach dem ersten Schreck breitete sich aber schnell Vorfreude aus. Die Kieler machten sich bewusst, dass auch sie kein Wunschgegner für den spanischen Spitzenclub gewesen sein dürften. Beide Mannschaften begegnen sich qualitativ in etwa auf Augenhöhe, die Tagesform wird über das Finalticket entscheiden. An Motivation mangelt es dem THW nicht, der Club will sich nach 2007, 2010, 2012 und 2020 zum insgesamt fünften Mal die europäische Handball-Krone aufsetzen. „Wenn man mit einer Trophäe aus Köln zurück nach Hause fahren möchte", weiß Szilagyi, „ist Barça die Mannschaft, die es immer zu schlagen gilt."
Verletzungs-Schock vor dem Turnier
Beim bislang letzten Triumph in der Königsklasse vor zwei Jahren war das den Norddeutschen eindrucksvoll gelungen. Damals stand im Endspiel gegen Barcelona ein 33:28-Erfolg – ebenfalls in der Kölner Lanxess-Arena. Die war damals coronabedingt allerdings ohne Zuschauer gefüllt, diesmal werden 20.000 Fans für einen Hexenkessel sorgen. Klarer Vorteil Kiel! „Das Final Four wird ein großartiges Happening des europäischen Handballs, für das man die gesamte Saison schwer arbeitet", sagte THW-Superstar Sander Sagosen. Der norwegische Rückraumspieler war – neben Torhüter Niklas Landin – vor zwei Jahren schon ein Garant für den Titel. Das wird er diesmal nicht sein können.
Der Norweger zog sich beim Nordderby gegen den Hamburger SV (29:22) eine Fraktur im linken Sprunggelenk und einen Riss des Syndesmosebandes zu. Geschätzte Ausfalldauer: sechs bis acht Monate. Ein Schock für die Kieler, bei denen sich zuvor schon Abwehrchef Hendrik Pekeler schwer verletzt hatte. Sagosens Ausfall könnte im Final Four schwer wiegen, denn nicht nur Domagoj Duvnjak sagt über ihn: „Sander ist der beste Spieler der Welt." Sagosen würde das so zwar nicht von sich behaupten, aber klar ist: Genau das ist sein Ziel. Und zwar von klein auf. „Als wir sieben Jahre alt waren, wollten alle meine Freunde Fußballprofis werden. Ich dagegen habe schon damals gesagt, ich will der beste Handballspieler der Welt werden", verriet er dem Magazin „Bock auf Handball". Der junge Sander machte alle mit diesem Wunsch verrückt, bis sein Vater Erlend, der einst selbst professionell Handball gespielt hat, zu ihm sagte: „Dann musst du auch dafür arbeiten." Und dann fing er an, mit seinem Sohn im heimischen Trondheim richtig zu trainieren. Auch draußen bei Eis und Schnee. Sein Bruder Ciljan band ihm sogar mal den rechten Arm auf den Rücken, damit er den Wurf mit dem schwächeren linken Arm perfektioniert.
Im Garten wurde auch extra auf zwölf Meter ein Kunstrasen ausgelegt. „Dort steht noch immer ein Handballtor", berichtete Sagosen. Und immer wieder stand Krafttraining auf dem Programm, denn als Kind war Sagosen eher schmächtig. „Wir haben unser eigenes Studio im Keller unseres Hauses eingerichtet", sagte der Norweger. Doch einen Drill habe er nie gespürt, auch Druck sei von Familienseite nie ausgeübt worden, betonte Sagosen: „Meine Eltern haben alles dafür getan, damit ich Spaß am Sport hatte." Dazu gehörte auch, sich gemeinsam auf Videos die Spiele des begabten Sohnes anzuschauen. „Meine Mutter stand bei meinen Geschwistern und mir immer mit einer Videokamera auf der Tribüne und hat unsere Spiele gefilmt. Zu Hause haben wir dann während des Abendessens gemeinsam analysiert", verriet Sagosen.
Auch Abwehrchef Pekeler fällt aus
Mittlerweile muss Mutter Monica, die früher hochklassig Fußball spielte, keine Videokamera mehr mit zu den Spielen ihres Sohnes nehmen. Dessen Partien werden weltweit ausgestrahlt, Sander ist längst zum Weltstar gereift. Trotzdem gilt der 1,95-Meter-Athlet noch heute als extrem fleißig und lernwillig, was vor allem seine Trainer enorm zu schätzen wissen. Starallüren sind Sagosen fremd, er arbeitet jeden Tag hart an seiner körperlichen und mentalen Verfassung. „Meine Essenz von Handball ist", verriet er einmal: „Du musst von allen lernen wollen."
Und das tut Sagosen. Bei seinem Ex-Club Paris Saint-Germain schaute er sich viel von den Welthandballern Nikola Karabatic („Die Eins-gegen-Eins-Situation") und Mikkel Hansen („Die Würfe") ab, in Kiel lernt er von Duvnjak vor allem über Führungsstärke. Von seinem Landsmann Ivano Balic habe er „das Zusammenspiel mit dem Kreisläufer" verinnerlicht. „Der Mix ergibt dann Sander Sagosen", sagte er. Ein Topathlet, der in vielen Bereichen weltklasse und daher für die Gegner nur sehr schwer aus dem Spiel zu nehmen ist.
„Ich setze einfach das fort, was ich in den vergangenen drei, vier Jahren schon getan habe", sagte der Vorzeigeprofi: „Ich bin der Typ, der auch außerhalb des Handballfeldes sehr, sehr hart arbeitet, der sich fit hält, sich gewissenhaft auf jedes Spiel vorbereitet." Doch um dem Ziel, der beste Handballer der Welt zu sein, noch näherzukommen, „musst du Titel gewinnen", weiß Sagosen: „Und deshalb bin ich hier in Kiel." Die Hafenstadt habe er nicht nur wegen der Nähe zum Wasser („Wenn ich das Meer sehe, dann fühle ich mich zu Hause") und seiner norwegischen Heimat, wo Freundin Hanna Bredal Oftedal studiert und die meiste Zeit verbringt, gegen die Metropole Paris eingetauscht. Er fühlt sich auch beim THW „aktuell am perfekten Platz".
Bestätigt wurde Sagosen durch den dramatischen Triumph im Viertelfinale der Champions League gegen Ex-Club PSG. Nach einem Unentschieden in Paris erkämpfte sich der deutsche Vorzeigeclub zu Hause in einem 33:32-Thriller das Final-Four-Ticket. „Wir haben in den vergangenen Monaten einen sehr guten Handball gespielt und wichtige Siege errungen", meinte Sagosen, der nun Barcelona „überraschen" und „den Pokal mit nach Hause nehmen" will. Im zweiten Halbfinale stehen sich der KC Veszprém aus Ungarn und Polens Meister KS Vive Kielce gegenüber.
Kielce spielt einen spektakulären Handball
Bei Kielce hütet Nationalspieler Andreas Wolff, der von 2016 bis 2019 beim THW unter Vertrag stand, das Tor. Ein Wiedersehen mit Wolff im Finale wäre ganz nach dem Geschmack der Kieler. Doch genau wie in der Paarung Kiel –Barcelona gibt es hier keinen klaren Favoriten. Kielce siegte in der Königsklasse 2016, der damalige Finalgegner Veszprém wartet noch auf den ersten Champions-League-Titel. „Meiner Meinung nach haben sie bis jetzt den besten und spektakulärsten Handball in dieser Saison gespielt", sagte Veszprém-Trainer Momir Ilic über die Polen. Man werde im Halbfinale „mit klarem Kopf" antreten, „um unser Spiel zu spielen." Dasselbe gilt für den THW. Schon die insgesamt achte Teilnahme am Endturnier an sich sei „grandios", schwärmte Geschäftsführer Szilagyi. Vor allem, weil diesmal keine Geisterstimmung herrschen werde. „Es ist einem noch bewusster geworden", so Szilagyi, „was für ein großartiges Final Four mit den vier besten Teams der Saison uns bevorsteht."
Auch Filip Jicha will die Atmosphäre genießen – doch noch viel mehr will er gewinnen. Der Triumph 2020 hat beim THW-Trainer Hunger auf mehr gemacht. Schon kurz nach der damaligen Siegerehrung hatte der Tscheche gewarnt: „Wer jetzt zufrieden ist, der kann gehen." Sobald man im Profisport zufrieden sei, „wird immer jemand kommen, der dich überholt", veranschaulichte der frühere Rückraumspieler: „Also musst du immer mehr tun als derjenige, der dich überholen will."
Jicha ordnet Titeln alles unter, auch deshalb kommt er bei Profis wie Sagosen prima an. Jicha ist fast schon besessen vom Erfolg, der ihn als Spieler (15 Titel mit dem THW) stets begleitet hat. Als Trainer wurde er anfangs auch kritisch beäugt, „ich weiß, dass mich einige scheitern sehen wollen", hatte er einmal behauptet. Beim THW gibt es viele Typen wie Jicha und Sagosen, die getrieben von einer intrinsischen Motivation nie zufrieden sind. Das könnte das große Plus im heißen Duell mit Barcelona sein.
Doch auch der Kontrahent läuft in Köln mit einer Extra-Motivation auf: Barcelona will den „Titelverteidiger-Fluch" brechen und als erste Clubmannschaft zweimal hintereinander den wichtigsten europäischen Wettbewerb gewinnen. „Es ist nicht immer einfach, nach einem Titelgewinn den Hunger auf weitere Erfolge zu haben", erklärte Barças Weltklasse-Torhüter Gonzales Perez de Vargas. Man sei „mindestens so stark wie im vergangenen Jahr" und befinde sich nach anfänglichen Problemen in der Saison „in einer richtig guten Verfassung". Das war auch Hendrik Pekeler – bis ihn im Rückspiel gegen Paris ein Achillessehnenriss stoppte. Der 30-Jährige fällt monatelang aus und wird den Zebras vor allem im Final Four schmerzlich fehlen. „Es ist eine Riesenschwächung und ein bitterer Verlust für uns", sagte Jicha: „Er wird bei uns an allen Ecken und Enden fehlen, wir verlieren einen sehr wichtigen Spieler." Klar sei, dass man einen Qualitätsspieler wie Pekeler „nicht eins zu eins ersetzen" könne. Aber im Verbund sei das möglich – das zeigte auch das am Ende gewonnene Spiel gegen PSG. „Da hat die Mannschaft ohne Peke für Peke gespielt", sagte Jicha. Nun muss sie für Pekeler und Sagosen spielen.