Ohne die Queen hätte ihr 70-jähriges Thronjubiläum wenig Spaß gemacht. Ohne den Tenniskönig mit den meisten Siegen auf Rasen ergibt das Turnier zur 100-jährigen Feier seines Club-Umzugs aber durchaus Sinn: Newcomer, Routiniers und Rückkehrer.
Die gute Nachricht für viele Federer-Fans: „Maestro" Roger will auf die Tennis-Bühne zurückkehren. Allerdings frühestens zum Laver-Cup im September, einem Showevent, das dem 40-Jährigen nach langer Pause nicht zu viel Kraft und Leistung abverlangt. Das heißt, der achtfache Rekord-Wimbledon-Sieger ist in diesem Jahr, in dem auch viele Altstars zum Champions-Klassentreffen anreisen, nicht dabei: Beim sagenumwobenen Grand Slam im Londoner Vorort, an der Church Road, wohin das Turnier mit seinem „Centre Court" vor 100 Jahren von der Worple Road umzog. Gefeiert wird vor allem am „Middle Sunday", am 3. Juli, an dem erstmals in der Historie auch planmäßige Matches angesetzt sein werden, für die zur Feier des Tages unter anderen Anwohner und Schulen Tickets bekommen.
Die unvorstellbare Meldung: Der Schweizer könnte nach knapp 25 Jahren komplett aus der Weltrangliste fallen, wenn ihm die 600 Punkte aus seiner bislang letzten Wimbledon-Teilnahme gestrichen werden. Vor acht Monaten war der Rasenplatz-Meister bereits aus der Top Ten gerutscht. Seit seinem Viertelfinal-Aus in Wimbledon 2021 hat der 40-Jährige keine Partie mehr bestritten. Zuvor stand er seit dem 2. Februar 2004 insgesamt 310 Wochen ganz oben.
Fast 19 Jahre lang war mindestens einer der „Big Three" unter den ersten Zwei der Weltrangliste vertreten. Am 13. Juni 2022 ist als Letzter der Großen Drei, Novak Djokovic auf Rang drei zurückgefallen, weil ihm die 2.000 Punkte vom letztjährigen Sieg bei den French Open verlustig gegangen sind. Rafael Nadal übernahm dort standesgemäß wieder die Sandplatz-Krone, ist aber „nur" Nummer vier der Welt. Auf Platz eins findet sich einmal mehr Daniil Medwedew, hinter ihm Alexander Zverev, der es bis ins Halbfinale von Roland Garros schaffte, bevor er verletzt aufgeben musste.
Sir Andy Murray, lange Zeit als einer der „Big Four" gezählt, schaffte es trotz seiner künstlichen Hüfte beim Rasenturnier von Stuttgart ins Finale. Beinahe hätte sich der zweifache Wimbledon-Sieger in der Schwaben-Metropole seinen ersten Turniersieg seit 2016 geholt. Immerhin kehrte der Schotte kurz vor Wimbledon in die Top 50 zurück. Vier Plätze vor dem zweitbesten Deutschen, Oscar Otte, der sich bei den Boss Open bis ins Halbfinale spielte und seine Positionierung um zehn Plätze verbesserte, steht der Brite nun.
Doch – „horrible!": In Wimbledon gibt es diesmal überhaupt keine Punkte! Das traditionsreichste Grand Slam der Welt hat sich wegen des Ukraine-Kriegs gegen eine Teilnahme von Spielern aus Russland und Belarus entschieden. Der „All England Lawn Tennis and Croquet Club" erklärte, man sei nicht bereit, „zu akzeptieren, dass Erfolge oder Teilnahmen in Wimbledon von der Propagandamaschine des russischen Regimes genutzt werden." Als Folge des Filters beschlossen die Welt-Tennisverbände ATP, WTA und ITF allen Spielerinnen und Spielern keine Punkte aus dem Turnier für ihre Weltranglisten-Positionierung anzurechnen.
„Wir möchten (…) unsere tiefe Enttäuschung über die Entscheidungen der ATP, der WTA und der ITF zum Ausdruck bringen, die uns die Ranglistenpunkte für die Meisterschaften entzogen haben", ist dazu auf der offiziellen Wimbledon-Website zu lesen. „Wir sind der Meinung, dass diese Entscheidungen im Kontext der außergewöhnlichen und extremen Umstände dieser Situation und der Lage, in der wir uns befanden, unverhältnismäßig sind und allen Spielerinnen, die auf der Tour antreten, schaden."
Gut ist diese Entscheidung der Tennis-Verbände für die beiden Russen, die Nummer eins, Medwedew, und den ATP-Achten, Andrey Rublev. Positiv auch für die deutsche Nummer eins, Alexander Zverev, der erstmals in seiner Karriere zur Nummer zwei der Tenniswelt aufstieg, in Wimbledon aber nicht antreten kann: Ein Bänderriss vom Ausrutschen auf dem Sand in Paris bremst den 25-Jährigen aus.
Fragen und Sorgen um Rafael Nadal
Besser lief es bis zum Schluss in Frankreich für einen, der mit anhaltenden Problemen im Mittelfußknochen anreiste: Rafael Nadal holte sich seinen 22. Grand-Slam-Titel und verbuchte somit schon vor Wimbledon 2022 zwei Riesenerfolge mehr als jeweils Federer und Djokovic.
Zwei Könige standen in Paris von ihren Plätzen auf, als die spanische Nationalhymne erklang und Rafa seine 14. Roland-Garros-Trophäe hochreckte: der spanische und der norwegische Monarch. Sie feierten ihn, der wohl der beste Sandplatzspieler aller Zeiten ist. „Für mich ist es sehr schwierig, meine Gefühle zu beschreiben. Ich habe nie daran geglaubt, dass ich wettbewerbsfähig bin auf dem wichtigsten Platz meiner Karriere: merci, merci beaucoup", bedankte sich der 36-Jährige insbesondere bei allen Parisern sowie seiner Familie. Ähnlich spannend wie die Frage, ob er noch einmal in Paris gewinnt, war die Spekulation, ob Nadal bei der Siegerehrung seinen Abschied von Roland Garros und möglicherweise sein Karriereende ankündigt. Doch Rafa erneuerte seinen Kampfgeist durch den Erfolg. Seine Ansage in Paris an Fans und Konkurrenten: „Ich weiß nicht, was meine Zukunft bringt. Ich werde alles tun, um meinen Wettbewerb zu bestreiten."
Was heißt das für die weiteren Grand Slams des Jahres? Eigentlich hatte der Spanier das britische Rasenturnier so gut wie abgesagt. Der Titel auf Sand weckte in ihm den Hunger auf mehr. Nach seinem Triumph in Paris reiste Nadal zu Spezial-Behandlungen und Erholung. „Ja, er spielt in Wimbledon", sagte sein Onkel Toni dennoch am Ende des ersten Juni-Drittels am Rande des ATP-Turniers in Stuttgart.
Nadals letzter Sieg in Wimbledon ist zwölf Jahre her. Djokovic hingegen siegte bei den letzten drei Turnieren, die dort stattfanden. Ein Ansporn für den Spanier, selbst auf Rasen noch einmal unmöglich Erscheinendes aus sich herauszuholen? In Paris besiegte Rafa den Serben.
Davon musste sich Novak erholen: So sehr, dass er komplett auf Rasenturniere verzichtete, die ihn auf das legendärste aller Grand Slams, vor den Augen von Herzogin Kate und anderer Royals, vorbereiten könnten.
Anders macht es Matteo Berrettini, einer der größten Favoriten in Wimbledon in diesem Jahr. Der Halbfinalist von 2021 pausierte vor der Rasensaison drei Monate für eine Finger-OP und nimmt seither auf Rasen mit, was nur irgend geht: so auch den Sieg in Stuttgart im Dreisatz-Match gegen Murray, mit gewohnt bombastischem Aufschlag und ebensolcher Vorhand. Bejubelt von den Bewohnern von „The Land", landete der Ritter aus Schottland doch keinen Turnierschlag: Die Schwachstellen seines Körpers waren nach einem 7:5 im zweiten Satz am Ende stärker als der Wille des 35-Jährigen.
Der Stuttgart-Sieger aus Italien hingegen feilt strahlend an seiner Wimbledon-Form. Mit 26 Jahren und jugendlicher Selbstsicherheit hat Berrettini beste Aussichten gegen die Altmeister im schnellen Rasenduell, Murray, Nadal und Djokovic. Sein Ziel sei es, „um den Pokal mitzuspielen", sagte er: „Ich weiß, dass ich das Level dazu habe." Sein Pech: Selbst, wenn er gewinnt, wird er aus den Top Ten fallen, sofern die ATP daran festhält, die Punkte aus dem Vorjahr verfallen zu lassen und keine neuen Punkte auszugeben. Marton Fucsovics würde sogar aus den Top 100 fliegen und müsste wieder Qualifikationsturniere spielen – paradoxerweise, weil er 2021 im Viertelfinale war.
Die Veranstalter ebnen indes den Vertretern der jungen Generation den Weg auf Rasen. Serve and Volley, traditionelle Tenniskünste, sind nicht mehr so wichtig, da die Grünpfleger die Wimbledon-Courts für das Tempo anderen Belägen angleichen. Besonders in der zweiten Woche sind die Unterschiede marginal: Egal, wie sehr sich der englische Regen bemüht, der niedergetretene Rasen wächst nicht schnell genug nach, um sich als Erd-Court optisch noch stark von Sandplätzen zu unterscheiden.
Bei den Damen könnte es so sein, dass Favoritinnen gar nicht erst antreten. Damit drohte zunächst Naomi Ōsaka. „Wimbledon ohne Punkte, das ist mehr wie eine Exhibition", sagte die 24-jährige zweifache US-Open-Siegerin spontan.
Swiatek fehlt ein gutes Resultat auf Rasen
Rätsel werfen die Williams-Schwestern auf: Serena, die im vergangenen Jahr in der ersten Runde aufgab, stand nicht auf der Meldeliste. Ebenso wie ihre ältere Schwester Venus. Somit fände erstmals seit 26 Jahren Wimbledon ohne eine der beiden statt: Eine Tradition würde beim Traditionsturnier enden. Doch Serena ist immer für eine Überraschung gut.
Am 14. Juni schrieb sie auf Instagram mit Bezug auf die Londoner Postleitzahlen: „SW und SW19. Wir haben eine Verabredung. 2022, wir sehen uns dort. Los geht’s." Noch am gleichen Nachmittag gaben die Wimbledon-Veranstalter ihrer siebenfachen Titel-Trägerin eine Wildcard. Für die Jagd auf Grand-Slam-Rekordtitel 24? – Schwierig, nach einem Jahr ohne Matches. Der Blick richtet sich nach vorne. Für Iga Świątek, die weit abgeschlagen auf Position eins der Damen steht, sind Punkte nachrangig. Wichtiger ist es für sie, beim Prestigeturnier erstmals über das Achtelfinale hinauszukommen. Die zurückgetretene Vorjahressiegerin Ashleigh Bart y wird ihr dabei nicht im Weg stehen. Simona Halep, Wimbledon-Championesse von 2019, hingegen beerbte Serena Williams vorzeitig, indem sie Patrick Mouratoglou als Trainer in ihr Team holte. „Ich träume von einem weiteren Grand-Slam-Titel", sagte die 30-Jährige gegenüber „Tennis Majors": „Dafür arbeite ich jeden Tag."
Auch Deutschlands Nummer eins, Angelique Kerber, könnte an ihre alten Erfolge beim Prestige-Grand-Slam – Halbfinale 2012, Finale 2016 und Turniersieg 2018 – anknüpfen. Obwohl die 34-Jährige auf adäquate Vorbereitung via Berliner Rasenturnier zur Überraschung mancher verzichtete. Coco Gauff hingegen machte sich in Grunewald auf Wimbledon-Rasen für das royale Event fit. Die 18-jährige French-Open-Finalistin war vor drei Jahren beim Rasen-Grand-Slam bis ins Achtelfinale gekommen.
Serena Williams war 1998 erstmals an der Church Road angetreten. Die damals 17-Jährige gewann bei ihrer Premiere an der Seite von Maks Mirny auf Anhieb den Turniertitel im Mixed. Im gleichen Jahr eroberte ein gewisser Roger Federer in Wimbledon als ebenfalls 17-Jähriger die Junioren-Titel im Einzel und Doppel. As time goes by.