Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, zu Beginn seiner Amtszeit von der Presse als „Jupiter" verspottet, hat bei den Wahlen zur Nationalversammlung eine Klatsche erlitten: Die absolute Mehrheit ist passé, die extremistischen Ränder gestärkt.
Die absolute Mehrheit futsch, starke populistische Ränder links und rechts, die schon totgesagten Konservativen als Zünglein an der Waage, eine historisch schlechte Wahlbeteiligung – die neu gewählte Nationalversammlung wird Frankreich verändern. Droht unseren Nachbarn inmitten der internationalen Krisen nun die Unregierbarkeit, eine deutliche Lähmung?
Seit dem 19. Juni ist Frankreich ein politisch anderes Land: Das liberale Mitte-Bündnis „Ensemble Citoyens" des gerade wiedergewählten Präsidenten Emmanuel Macron hat seine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung Assemblée Nationale nicht verteidigen können. Nach Angaben des französischen Innenministeriums stellt von 577 Sitzen das präsidiale Bündnis künftig nur noch 245 Abgeordnete. Stärkste Oppositionskraft wurde das Linksbündnis Nupes (Nouvelle Union Populaire Ecologique et Sociale) als neue ökologische und soziale Volksunion um Jean-Luc Mélenchon mit 131 Sitzen. Dem Altlinken Mélenchon war es einige Wochen zuvor gelungen, seine Partei La France Insoumise, die Grünen und die in die Bedeutungslosigkeit gefallenen Sozialisten und Kommunisten sowie einige weitere linke Splitterparteien zu einer Linksallianz zusammenzuschmieden. Zweitstärkste Oppositionspartei wurde der Rassemblement National von der erst im April unterlegenen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen mit 89 Sitzen. Die bereits totgesagten Konservativen Les Républicains errangen 61 Sitze. Parteien aus allen anderen politischen Parteien kamen auf insgesamt 51 Sitze.
Kein Durchregieren
Die Folgen dieses Wahlergebnisses: Viele amtierende Minister haben ihren Wahlkreis verloren. Ein Durchregieren des französischen Präsidenten in den nächsten fünf Jahren mit einer absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung im Rücken wird es nicht mehr geben. Im Gegenteil: Kompromisse sind gefragter denn je, denn es ist davon auszugehen, dass das Mitte-Bündnis Ensemble eine Minderheitsregierung bildet und sich für das Durchbringen von Gesetzesvorhaben die Unterstützung bei anderen Parteien holen wird, allen voran bei den Konservativen. Mit der Fundamentalopposition des extrem rechten und extrem linken Randes dürfte auch künftig kein Staat zu machen sein. Zu groß sind die Unterschiede in der Außen- und Sicherheitspolitik. Etwa das Nein zur Nato und der EU, in der Sozialpolitik die Rente ab 60 für alle, die Rücknahme des reformierten Arbeitsrechts, alles Forderungen Mélenchons, oder die nationalistischen Ansichten des Rassemblements National um Rechtspopulistin Marine Le Pen.
Schon jetzt mehren sich die Stimmen bei den gemäßigten Parteien, Frankreich nicht in die Unregierbarkeit versinken zu lassen, denn für alle Gesetzesvorhaben braucht Macron eine Mehrheit in der Nationalversammlung sowie die Zustimmung des Senats als zweite Kammer. Kommt es zu keiner Einigung, kann die Assemblée Nationale allerdings den Senat überstimmen, auch das Misstrauensvotum ist ihr vorbehalten. Im Fall einer Minderheitsregierung dürfte sich die neue französische Regierung je nach Thematik eine Mehrheit in der Nationalversammlung entweder bei den Konservativen oder bei den gemäßigten Linken beziehungsweise Grünen sichern. Doch Kompromisse, wie beispielsweise in Deutschland in Form von Koalitionen üblich, sind nicht sonderlich populär in Frankreich und auch kein geübter Alltag. Seit 2002, als die letzte Kohabitation unter dem konservativen Präsidenten Jacques Chirac mit einem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin endete, konnten sich die nachfolgenden Präsidenten im Grunde genommen auf eine Mehrheit in der Nationalversammlung verlassen.
Dass Emmanuel Macron bei seinen Landsleuten nicht sonderlich beliebt ist, hat bereits das Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen im April gezeigt. Der von vielen Franzosen als Präsident der Reichen Titulierte wurde nur als kleineres Übel im Vergleich zu Herausforderin Le Pen gesehen. Seine erste Präsidentschaft wurde stark von der Corona-Krise geprägt und von den Protesten auf der Straße wie der Gelbwestenbewegung, die sich gegen die liberale Politik des Präsidenten wendete. Hinzu kam in den letzten Monaten der Ukraine-Krieg mit all seinen Folgen wie Kaufkraftverlust, Inflation und der unsicheren Energieversorgung. Das wohl wichtigste Reformvorhaben Macrons, die schrittweise Anhebung des Rentenalters von 62 auf 65 Jahre, dürfte sicherlich die schwierigste Aufgabe der neuen Regierung Frankreichs bleiben, wie immer sie auch aussehen mag. Die Angst vor der Straße und die wackelige politische Situation in der Nationalversammlung könnten die ambitionierten Reformvorhaben scheitern oder lediglich zu wirkungslosen Reförmchen verpuffen lassen.
Das unbefriedigende Wahlergebnis, das Erstarken der Populisten und die extrem niedrige Wahlbeteiligung mit deutlich unter 50 Prozent zeigen aber auch ein anderes Problem in Frankreich auf: Die einst etablierte Parteienlandschaft mit Sozialisten, Liberalen und Konservativen befindet sich in einer schweren Krise. Alle ernst gemeinten Versuche, die politischen Institutionen und das Wahlrecht zu reformieren, dürften angesichts der instabilen politischen Verhältnisse jetzt noch schwieriger werden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass eine populistische Fundamentalopposition eines Jean-Luc Mélenchon oder einer Marine Le Pen nicht weiterhilft. Wer sämtliche Reformvorhaben ablehnt, EU und Nato lieber heute als morgen verlassen möchte, muss sagen wie es anders besser geht und vor allem wie soziale Wohltaten finanziert werden sollen.
Erneut Gefahr von „Reförmchen"
Mit dem Thema Europa, einem Steckenpferd Macrons, das in Frankreich aber nicht sonderlich interessiert, hat der Präsident sich wohl verzockt. Daher lohnt ein Blick, wie in Grand Est und insbesondere im Département Moselle, das an das Saarland und an Rheinland-Pfalz grenzt, abgestimmt wurde. Schließlich profitieren viele Menschen in Moselle besonders stark von offenen Grenzen in Europa. In Grand Est errang das präsidiale Bündnis Ensemble 16 Wahlkreise, die Republikaner zwölf und der Rassemblement National zehn. Das Linksbündnis Nupes konnte Wahlkreise in Straßburg und in Metz gewinnen sowie traditionell im Département Meurthe-et-Moselle bei Nancy.
Erschreckend und mit möglichen Folgen für das Saarland ist das starke Abschneiden der Rechtsextremen in Moselle. Der Schachzug Marine Le Pens, populäre Schwergewichte in der strukturschwachen, traditionell rechtslastig wählenden Grenzregion einzusetzen, scheint aufgegangen zu sein. Von neun Wahlkreisen in Moselle setzten sich in dreien Rechtsextreme durch: der Schatzmeister des Rassemblements National Kévin Pfeffer aus Stiring-Wendel, Marketing-Chef Alexandre Loubet in St. Avold und der Fraktionschef im Regionalrat Laurent Jacobelli in Sarrebourg. Je drei Wahlkreise gingen an die Kandidatinnen und Kandidaten von Ensemble und der Republikaner sowie ein Sitz an Nupes.