Die Brother Islands vor der Küste Ägyptens gehören zu den beliebtesten Tauchrevieren der Welt. Vor allem das Wrack der vor über 100 Jahren gesunkenen SS Numidia ist eine Attraktion. Allerdings nur für erfahrene Taucher.
Bei diesem Tauchgang muss alles sofort sitzen. Wir haben nur einen einzigen Versuch", erklärt Cheftaucher Hamdi Gabal im Briefing. „Rolle rückwärts vom Zodiac und dann sofort auf 20 Meter durchsacken lassen. Sonst werdet ihr aufs offene Meer hinaus getrieben. Ihr wärt nicht die Ersten. Und da draußen cruisen Weißspitzen-Hochseehaie."
Also kein gemütliches Sammeln an der Oberfläche wie normalerweise üblich, kein letzter Check, kein „Alles Okay" und dann gemächlich Abtauchen. Der Dive-Master des Tauchschiffs „Omneia Spirit" muss es wissen, war er doch schon Dutzende Male an den Brother Islands und weiß um die brutale Strömung dort.
Dafür – oder besser gesagt deshalb – erleben die Taucher bis zum ersten Stopp bereits viel mehr als bei manch anderem kompletten Tauchgang. Das Wasser ist glasklar, fast 30 Meter Sicht und angenehme 25 Grad warm. Auf dem flachen Korallendach tummeln sich abertausende Rifffische in der wogenden See. Knallrote, scharlachrote, hellrote, rosenrote, rosarote, blutrote, dunkelrote, bordeauxrote, rot-blaue, rot-schwarz-gestreifte, blaugelbe … größere, kleinere, winzige, runde, kantige, schnittige … Ein Rausch an Farbe und Form in epischem Ausmaß, wie ihn die Natur einzig im Lebensraum Korallenriff erschaffen hat. Weichkorallen tanzen im Rhythmus der Wellen, ein Leben lang. Hartkorallen wohin das Auge reicht. Dazwischen kunterbunte Nacktschnecken, wie von Künstlerhand erschaffen. Als ob alle mit den Fischen in einem unausgesprochenen Wettkampf stehen würden, so anmutig und schön ist das Bild.
Doch da, etwas Ungewöhnliches, einem surrealen Werk gleich, ein von Menschenhand geschaffenes, das die Natur mit ihrem bizarren Bewuchs vollendet hat. Es scheint aus Raum und Zeit gefallen, inmitten des Roten Meeres irgendwo zwischen Ägypten und Saudi Arabien: Zwei mannsgroße Lokomotivräder, noch auf Achse. Kolosse mit armdicken Stahlspeichen.
Ein paar Meter weiter an der Abbruchkante, dort wo eine silbrige Wolke Tausender Stachelmakrelen vorbeizieht und das Meer bedrohlich ins Bodenlose abfällt, werden die geborstenen Strukturen eines gewaltigen Wracks sichtbar. Der Stahlkoloss scheint fast senkrecht am Steilriff zu kleben und verliert sich alsbald im tiefen Blau. Ein magischer Anblick. Zumindest für passionierte Wracktaucher aus aller Welt, die extra wegen ihr gekommen sind: der SS Numidia, in Taucherkreisen auch liebevoll „Das Eisenbahnwrack" genannt. Sie legt ein eindrückliches Zeugnis untergegangener britischer Eisenbahn- und Kolonialgeschichte des vergangenen Jahrhunderts ab. Und von einer schicksalhaften Nacht am 20. Juli 1901.
Gut einen Monat früher, am 15. Juni, läuft das stolze Dampfschiff in Liverpool ein. Die Numidia kehrt zurück von ihrer Jungfernfahrt nach Kalkutta in Britisch-Indien. Sofort herrscht geschäftiges Treiben im Hafen. Indischer Pfeffer, Baumwolle, Jute, Weizen und Tee werden gelöscht. Schon beginnt das Bunkern mit Stückgut. Fertigtextilien, Ersatzteile für die britischen Flussdampfer, Werkzeuge, Porzellan, komplette Lokomotiven in Einzelteilen, Schienen, einfach alles, was die Kolonialmacht auf dem fernen Subkontinent benötigt. Am 6. Juli sticht die SS Numidia mit 7.000 Tonnen Cargo und 97 Mann an Bord Richtung Kalkutta in See. Ihre zweite große Fahrt sollte auch ihre letzte werden:
„Menschliches Versagen. Eindeutig menschliches Versagen", wird Richter William George Scott-Moncrieff später urteilen. „Das Gericht ist zu der Auffassung gekommen, dass der 2. Offizier, Mr. James Tulloch, eingeschlafen sei, nachdem er am 20. Juli gegen 1.30 Uhr eigenmächtig den Kurs der SS Numidia geändert habe, um eine vermeintliche Gefahr für das Schiff abzuwenden."
Schaut man sich heute die Karte an, gleicht es fast einem Kunststück, dass die Numidia einen der beiden stecknadelgroßen Punkte inmitten des Roten Meeres rammte. Zwei vulkanische Felsnadeln, die aus 1.000 Metern Tiefe die Oberfläche knapp durchbrechen. El Ikhwa, die Brüder, heißen die beiden kargen Eilande in Ägypten. In der internationalen Tauchszene laufen sie auf Englisch einfach unter Brothers oder Brothers Islands.
Betörendes Spiel aus Licht und Schatten
Der kleine Bruder ist unbebaut und misst grade mal 200 Meter, der große 400. Noch heute thront der britische Leuchtturm auf der flachen Scholle, der auch schon in besagter Nacht sein helles Leuchtfeuer in die tropische Nacht strahlte. Es erscheint fast wie die sprichwörtliche Ironie des Schicksals, dass die Numidia exakt Kurs auf dieses Leuchtfeuer nahm, schließlich über das flache Saumriff schrammte, Leck schlug und dort auf den Tag genau weitere vier Monate festhing. Bis sie schließlich am 20. November 1901 im Sturm erbrach und exakt an der Stelle sank, wo sie heute mit dem Riff verwachsen ist.
An dieser Bruchstelle entern die Taucher das geschundene Schiff. Vom abgebrochenen Bug ist ohnehin nichts mehr zu finden auf dem Korallendach. Den hat die Brandung längst zerlegt und fortgetragen. Einzig ein paar schwere Eisenbahnschienen liegen noch herum. Im Bauch der Numidia muss sich das Auge erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen. Einfallende Sonnenstrahlen zaubern ein betörendes wie irritierendes Spiel aus Licht und Schatten. Plötzlich zerschneidet eine kapitale Karettschildkröte die Lichtkegel. Der Schreck sitzt. Es hätte auch ein aufgeschreckter Hai sein können, der sich in die Ecke gedrängt fühlt. In einem großen Wrack weiß man nie so recht, was – oder wer – einen erwartet. Genau dieser hochdosierte Adrenalinkick triggert die globale Wracktauch-Community aufs Vorzüglichste.
Ein Tauchgang zur Numidia ist Faszination und Herausforderung zugleich. Nicht nur wegen der heftigen Strömung, die seit nunmehr 121 Jahren permanent gegen die Backbordwand drückt und diese noch immer nicht niederringen konnte. Im Wrack selbst ist sie glücklicherweise eher moderat. Man taucht aber permanent kopfüber, fast senkrecht oder unter Deck abwärts. Unser Gehirn hat jedoch ein Schiffdeck als waagerechte Ebene abgespeichert. Treppen, dunkle Gänge oder der Maschinenraum im Bauch der Numidia sind noch irritierender. Die Welt steht Kopf, der Mensch schwebt mittendrin in fremder Materie mit ein paar Litern Luft im Tank und einer Uhr, die gnadenlos tickt. Verirren ist keine Option.
Der Mensch schwebt in fremder Materie
Nicht jeder Taucher kommt damit klar. Wer in das Eisenbahnwrack taucht, sollte reichlich Erfahrung mitbringen. 50 geloggte Tauchgänge sind ohnehin gesetzlich vorgeschrieben an den Brothers, die wenigsten kommen mit unter 100. Die Tauchfreaks wissen warum: CNN hat die Numidia zum neuntbesten Tauchspot der Welt gekürt. Eines der schönsten Wracks ist sie sowieso. Immerhin gibt es geschätzt 300.000 davon in den sieben Meeren.
Rankings und Zahlen hin oder her, den Abertausenden roten Fahnenbarschen, die das Dampfschiff als ihr Zuhause gewählt haben, ist das völlig egal. Genau wie den Papageifischen draußen an der Reling, die lautstark Hartkorallen knabbern. Oder den Schwärmen von Schnappern. Oder den unzähligen winzigen Glasfischen im Laderaum, deren Wolke sich teilt, wenn ein Taucher auf sie zukommt, um sich sogleich hinter ihm wieder zu schließen. Die Laderäume sind übrigens leer, das Stückgut wurde damals gelöscht, als die Numidia auf dem Saumriff festhing und man erfolglos versuchte, den Frachter wieder flott zu bekommen.
Ein Walhai mit Baby zieht vorbei
Der stählerne Korpus bietet bis heute Schutz vor pfeilschnellen Barrakudas im oberen Bereich sowie vor patroullierenden Hammerhaien weiter unten Richtung Schiffschraube auf 82 Meter. Diese Region ist den sogenannten Tec-Divern mit speziellen Atemgas-Gemischen vorbehalten. Für Sporttaucher ist bei 40 Meter, sprich im Maschinenraum, Schluss. Bei einem Sauerstoff zehrenden Tauchgang zur Numidia geht es nach nur einer halben Stunde wieder Richtung Licht. Steuerbord im Strömungsschatten der stählernen Lady zieht ein Habitat filmreif an den aufsteigenden Tauchern vorbei, wie es das so nur noch selten auf unserem Blauen Planeten gibt. Der Übergang von Schiff zu Riff ist längst nicht mehr auszumachen. Korallen in Hülle und Fülle, Reizüberflutung pur. Und als ob das alles nicht genug wäre, ziert ein großer purpurroter Federstern in vollendeter Schönheit die Steilwand. Fast hätten die Taucher wegen ihm eine Walhai-Mama mit ihrem Jungen übersehen. Gemächlich ziehen sie ihre Bahnen und scheinen sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen zu lassen. Auch nicht von dem Weißspitzen-Hochseehai im Blauwasser, der gebieterisch durch sein weites Revier schwebt.
Dort soll er bitteschön auch bleiben. Diese Spezies gilt als potenziell gefährlich für Taucher, für vier endete das Abenteuer Numidia in den vergangenen Jahren tödlich. Daraufhin machte die ägyptische Regierung 2018 die Brothers für ein Jahr dicht. Angeblich, um das Verhalten der Hochseehaie besser zu erforschen, vermutlich aber um Negativschlagzeilen zu vermeiden. Dann kam Corona und eine elendige Durststrecke für Cheftaucher Hamdi Gabal, seine Kollegen, deren Frauen und Kinder.
Umso glücklicher ist er, dass die Tauchsafaris in den vergangenen Monaten wieder Fahrt aufgenommen haben. Und im Hier und Jetzt? Dass alle seine Ferientaucher wieder wohlbehalten und mit leuchtenden Augen im Zodiac sitzen und den Mythos Numidia in die weite Welt tragen.