Meistens als Freizeitkleidung abgestempelt fand der Jogginganzug lange Zeit eher wenig Beachtung. Erst mit dem Ausbruch der Pandemie wurden die bequemen Klamotten richtig heiß begehrt. Eine Tendenz, die auch nach zwei Jahren nicht nachgelassen hat.
Es kam einer modischen Apokalypse gleich, als sich Anna Wintour vor knapp zwei Jahren im coronabedingten Homeoffice an ihrem Schreibtisch sitzend in einer knallroten Jogginghose mit weißen Seitenstreifen ablichten und das Foto anschließend via Instagram verbreiten ließ. Schließlich galt die „Vogue"-Chefin mit ihrer Vorliebe für elegante Klamotten als eine der letzten Modeikonen, die Karl Lagerfelds immer wieder zitiertem Verdikt, „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren", aus vollem Herzen zugestimmt hatte. „Anna Wintour in Jogginghose – das ist, als ob der Papst plötzlich das Zölibat anzweifeln würde!", so die „Welt" in einer Stilkolumne. Immerhin konnte sich die unumstrittene Anführerin des internationalen Fashion-Zirkus so weit zügeln, dass sie nicht auch noch die passende Jacke zur Hose übergestreift und damit den Komplettlook des Jogginganzugs oder Sweatsuits vervollständig hatte. Stattdessen wählte sie einen Streifenpullover als Oberteil und verzichtete natürlich auch nicht auf die obligatorische, dunkel getönte Riesen-Sonnenbrille als feinen Kontrast zu ihrem akkurat geschnittenen Bob. Vermutlich wollte Madame Wintour mit diesem für sie geradezu revolutionären Stilbruch ihre Solidarität mit der weltweiten „Stay at home"-Kampagne ausdrücken.
Keine große Lust sich aufzustylen
Tatsächlich erwischte Corona die Luxus-Mode-Industrie auf dem falschen Fuß. Die Damen-Branche hatte sich gerade erst aufgemacht, den in den letzten Jahren dominierenden, sportiv-bequemen Klamotten-Einschlag gegen mehr Eleganz, Figurbetonung und Sexiness zu tauschen. Selbst die wichtigsten Streetwear-Pioniere wie Demna Gvasalia hatten sich auf die Suche nach neuen modischen Ausdrucksmöglichkeiten abseits vom komfortablen Schlabberlook gemacht. Und so stiegen im Zuge des weltweit empfohlenen Homeoffices die Sweatsuits oder Trackie Suits in Windeseile zur Nummer eins der Loungewear auf. Der Grund war mehr als pragmatisch: Kaum jemand verspürte in den eigenen Wänden große Lust sich aufzustylen oder in elegantere Business-Wear zu schlüpfen. Statt engem Rock oder förmlichem Hosenanzug beziehungsweise Kostüm war zu Hause nur noch Bequemes gefragt. Bei etwaigen Video-Konferenzen mit Kollegen konnte obenrum sicherheitshalber schnell ein kuschliger Hoodie oder eine Jogginganzugjacke abgelegt werden, während taillenabwärts gleichsam unsichtbar die komfortable Lässigkeit beibehalten werden konnte.
Es setzte ab Frühjahr 2020 ein regelrechter Run auf Jogginghosen und Sweatsuits ein, Fashion-Suchmaschinen wie List oder Online-Bestell-Portale wie Net-à-Porter vermeldeten Rekordnachfragen. Wovon vor allem die klassischen Sport- oder Athleisure-Marken wie Nike oder Adidas profitierten. Auch kleinere Labels mit einem flexiblen Sortimentsaufbau und natürlich die Fast-Fashion-Ketten konnten rasch auf den Trendzug aufspringen, während die Luxus-Brands bis zum Herbst 2020 und der Präsentation ihrer Kollektionen für den Sommer 2021 weitgehend außen vor bleiben mussten. Nur ganz wenige Edel-Marken wie Tom Ford oder Balenciaga hatten immerhin Sweatpants in ihre Kollektion aufgenommen. Selbst der coronabedingte Lockdown mit kompletten Ladenschließungen konnte der Nachfrage nach den bequemen Klamotten nichts anhaben, weil diese ja dank ihres Komfort-Schnitts geradezu ideal fürs Online-Ordern geeignet und aufwendige Anproben in der Regel nicht nötig sind. Die größte Fashion-Suchmaschine der Welt namens List deklarierte das Jahr 2020 denn auch zum „Year of Sweatpants". Nichts spricht dagegen, diese Einschätzung auf die kommenden Jahre auszuweiten.
Zumal sich im Laufe der Zeit immer mehr It-Girls, Influencerinnen und Promi-Ladys, beispielsweise Emily Ratajkowski, Bella Hadid, Jennifer Aniston, Stella Maxwell, Beyoncé und Hailey Bieber, auch außerhalb der eigenen Wohnung in Sweatsuits auf der Straße zeigten und damit die Kuschelteile zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Off-Duty-Looks gemacht hatten. Wobei sie zunächst keine bekannten Logos Gassi führen konnten, sondern auf Sets von Labels wie Frankie Shop, Mango, Fruit of the Loom, H&M, Massimo Duti oder Zara zurückgreifen mussten. Es sei denn, sie entschieden sich für die in allen Farben erhältlichen Modelle des umweltfreundlichen Aufsteiger-Brands Pangaia, dem die Sweatsuits aus recyelten Kaschmir-Materialien oder auch aus wiederverwerteter Baumwolle gleichsam aus den Händen gerissen wurden. Auch die Brands Loulou Studio oder Raey waren mit Kaschmir-Jogginganzügen zur Stelle, womit sie nachdrücklich unter Beweis stellen konnten, dass Sweatsuits klassischer Weise eben nicht nur aus Polyester- oder Baumwollfäden perfekt kuschelweich hergestellt werden können. Sondern dass Kaschmir durchaus bei Jogginganzügen eine Edel-Alternative zu Rippstrick, Nicki/plüschig-flauschigem Velours oder Jersey sein kann.
Von Madonna bis Paris Hilton
Die Zeitschrift „Vogue" riet beispielsweise zum Kauf von ultraweichen Zweiteilern der Marke Live The Process, alternativ zu Sweatsuits von The Row und Acne Studios. Damit könne man sogar guten Gewissens zur „Dinner-Verabredung" erscheinen. „Egal, ob Sie die Teile zusammen tragen oder getrennt stylen, zeitgemäße Loungewear-Sets sind die beste Möglichkeit, stilvoll auszusehen und trotzdem nicht auf Komfort verzichten zu müssen." Als Kombi-Partner für die kalten Tage empfahl die „Vogue" Trenchcoat oder Puffer-Jacket. Und wagte sogar den fraglos ziemlich diskussionswürdigen Tipp, ruhig mal zum Jogginganzug statt Turnschuhen auf High Heels an den Füßen zurückzugreifen.
Ende 2020, noch bevor die Designer-Kollektionen für den Sommer 2021 mit Sweatsuits-Kreationen den Weg in die Läden weltweit gefunden hatten, feierte der legendäre Nicki-Trainingsanzug von Juicy Couture aus den frühen Nullerjahren fröhliche Wiederauferstehung. Das Newcomer-Label Suzie Kondi legte mit seinen bonbonfarbenen Nicki-Anzügen einen Blitzstart hin. Der 1995 in Los Angeles gegründete Brand Juicy Couture, der mit seinen samtenen Sportanzügen aus Nicki-Stoff für viele Frauen den Zeitgeist der Nullerjahre geprägt hatte und der damals berühmte Promi-Damen von Jennifer Lopez über Madonna bis hin zu Paris Hilton, Nicole Ritchie oder Britney Spears zu seinen treuesten Fans zählen konnte, nutzte sein 25-jähriges Jubiläum zu einer Neuauflage seiner Nicki-Traininganzüge, die seinerzeit mit ihren grellen Farben und das Logo gewissermaßen als textiles Arschgeweih mit Glitzersteinen auf dem Allerwertesten präsentierenden Teilen für Furore gesorgt hatten.
Nach einigen Besitzerwechseln und dem damit verbundenen Abdriften in die modische Trash-Kultur hat sich der heutige Inhaber-Konzern Authentic Brands Group seit einigen Jahren um ein Relaunch der Marke bemüht und dabei unter anderem anno 2016 eine erfolgreiche Kooperation mit dem Pariser Streetstyle-Star Vetements abgeschlossen, wobei der feuerrote Jogginganzug in einen Jumpsuit samt glitzernden Juicy-Schriftzug auf dem Po verwandelt worden war. Später war immer mal wieder ein Mitglied des Kardashian-Clans in hautengen Juicy-Klamotten zu sehen gewesen. Ein besonderer Clou dann war der Auftritt der männlichen Stilikone Timothée Chalamet in einer Cover-Story des US-Herrenmagazins „GQ": Trug der Schauspieler doch eine hellrosafarbene Kapuzenjacke von Juicy Couture. Was für reichlich Medienaufmerksamkeit gesorgt und die gleichzeitige Lancierung der neuen Nicki-Kollektion zusätzlich gepusht hatte. Die Sweatsuits wirken mit ihren Glitzer-Applikationen schon ziemlich retro, sind aber teilweise nicht mehr ganz hauteng, sondern auch bequem-weit geschnitten. Manche tragen statt Bling Bling auch nur das Logo JC. Damit noch nicht genug an Nicki-Zweiteilern, denn keine Geringere als Kim Kardashian hat für ihr eigenes Unterwäsche- und Loungewear-Label Skims den Juicy Couture-Klassiker ziemlich unverfroren abgekupfert und ihre knalligen Nicki-Teile in für sie ungewohnt lockerem Schnitt im Oktober 2020 auf den Markt gebracht. Und sich für Promotionzwecke auch gleich die Dienste ihrer Freundin Paris Hilton sichern können.
Da die Corona-Pandemie die Welt wohl weiterhin in Atem halten wird, haben die Luxus-Brands den Sweatsuits ihre besondere Aufmerksamkeit gewidmet und dabei einige bemerkenswerte Innovationen entwickelt, die die Jogginganzüge insgesamt modisch-stylischer wirken lassen. Wobei Prada fraglos den Vogel abgeschossen hat. Denn statt wie gewohnt Hose mit Jacke oder Hoodie zu kombinieren, wurde ein Kapuzenpullover mit einem Midi-Rock zusammengestellt, wobei beide Teile mit dem gleichen grafischen Muster verziert wurden. So weit wie Prada entfernte sich kein anderes Label von der klassischen Vorlage, vielmehr wurden die Jogginganzüge meist nur in kleineren Details verändert oder mit Applikationen beziehungsweise unkonventionellen Prints versehen. Interessant waren die Entwürfe von Max Mara mit gerafft-drapierten Ärmellösungen an Jacken zu Hosen, die teils an Bermudas, teils an Chiffon-Pants erinnerten. Noch ausgefallener die Sweatsuits von Y/Project mit Marlene-Hosen ähnlichem Unterteil und Jacken, deren Saum in langen Stoffbahnen um die Taille gewickelt werden kann. Eher unspektakulär und der Figur nicht gerade schmeichelnd die oversized geschneiderten Zweiteiler von Balenciaga. Ebenfalls sehr weit geschnitten, aber dafür mit fröhlich-psychedelischem Batik-Print aufwartend die Sets von Collina Strada. Rodarte entschied sich bei einem Anzug gar für das Material Seide samt Blumenmuster und Spitzenbesatz. Rodarte und Tom Ford setzten hingegen voll auf Satin, wobei bei Rodarte das Model in schwarzen Riemchen-High Heels samt black Nylons posierte. Eher an die sportliche Vergangenheit des Zweiteilers anknüpfend die relativ eng gehaltenen Kreationen von Miu Miu oder Wales Bonner. Auch Marni, Gucci oder Boss mischen beim Sweatsuits-Trend munter mit.
Zweiteiler als Sonntagsuniform
In der Herrenmode sind Trainingsanzüge in Corona-Zeiten natürlich ebenfalls sehr angesagt. Es muss ja nicht unbedingt ein teures Teil aus Kanye Wests Yeezy-Kollektion oder aus Justin Biebers Modelinie Drew House sein. Zudem gibt es in Sachen Sweatsuits in der Menswear die Innovation namens „Joggsuit", ein Hybrid aus Joggingteilen und Anzug, gearbeitet aus elastischen Materialien, daher faltenfrei und selbst auf Reisen stets bügelfein aus dem Koffer herausnehmbar. Die Hose hat meist einen Schnürverschluss, ansonsten sieht der Zweiteiler wie ein normaler Anzug aus. In der Luxus-Version aus Kaschmir beispielsweise von Brunello Cucinelli erhältlich, für gut 200 Euro aber auch von S. Oliver zu haben. Einziges Problem: Man kann absolut nichts in den Taschen transportieren, weil selbst ein Feuerzeug deutlich sichtbar aufträgt, vom Portemonnaie ganz zu schweigen.
Als Erfinder des Jogginganzugs gilt übrigens der Franzose Emile Camuset, der 1939 auf der New Yorker Weltausstellung erstmals für sein Sportartikelunternehmen Le Coq Sportif einen solchen Zweiteiler präsentiert hatte, dem seine Landsleute gleich den Scherznamen „Sonntagsuniform" verpassen sollten. Die 1966 aufgenommene Kooperation der Franzosen mit Adidas sollte ein Jahr später zum ersten Trainingsanzug mit den berühmten drei Streifen führen. Nachdem der Trainingsanzug in den 1970er-Jahren seinen Siegeszug in der Sportswelt aufgenommen hatte, wurde er in den 1980- und 1990er-Jahren dank bekannter Vertreter von Rap und Hip-Hop im Streetstyle salonfähig. Um dann in den Nullerjahren dank Juicy Couture auch Einzug in die Damenmode zu halten. Im Laufe des Athleisure-Trends wurden Sweatsuits dann ab etwa 2014 endgültig alltagsmodetauglich.