Erstmals in ihrer Geschichte finanziert die EU Waffenlieferungen. Die „Friedensmacht" EU will „souveräner, unabhängiger, strategischer" werden, auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Die EU ist eine andere geworden. Nicht erst seit dem 24. Februar, dem Tag, an dem Russland die Ukraine angegriffen hat. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg hat vieles beschleunigt, was schon seit Jahren, wenn auch mühsam und mit nur überschaubarem öffentlichen Interesse am Laufen war. Es hat aber auch Blickwinkel verändert. Wo zuvor viel vom Auseinanderdriften die Rede war, konzentrieren sich die Mitgliedsstaaten jetzt – vielen Differenzen in Einzelfragen zum Trotz – auf gemeinsame Stärken und erfinden damit unter dem Druck der Ereignisse ein neues Gesicht der „Friedensmacht" EU.
Wo Bundeskanzler Olaf Scholz von einer „Zeitenwende" spricht, gebraucht EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das Wort von einer „Wegscheide".
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell befand: „Ein (weiteres) Tabu ist gefallen". Unmittelbar nach Kriegsausbruch hat die EU erstmals in ihrer Geschichte die Finanzierung von Waffen beschlossen: 450 Millionen Euro für Waffenlieferungen an die Ukraine. Borrell sprach von einer „Lieferung tödlicher Ausrüstung". Es ging am Anfang des Krieges vor allem um Panzer- und Luftabwehrwaffen.
Europa muss mehr für die eigene Sicherheit tun
Schon der technische Vorgang macht die politische Dimension dieser „Wegscheide" deutlich. Die Finanzierung erfolgt aus einem Sonderfonds („Europäische Friedensfazilität"), denn laut EU-Vertrag dürfen Waffen nicht aus dem normalen EU-Haushalt finanziert werden.
Der Beschluss war aber alles andere als eine kurzfristige Reaktion auf den russischen Überfall. Von der Öffentlichkeit wenig beachtet, waren bereits Anfang Dezember vergangenen Jahres aus diesem Sonderfonds über 30 Millionen Euro für die ukrainische Armee bereitgestellt worden. Damals allerdings für „nicht tödliche Hilfe", etwa Feldlazarette, Logistik oder Cyberabwehr. Bemerkenswert daran ist der Zeitpunkt. Diese Hilfe wurde genehmigt, als Russland seine großen „Manöver" an der ukrainischen Grenze abhielt unter gleichzeitiger Beteuerung, es handele sich „nur" um Übungen und keineswegs um die Vorbereitung eines Angriffskriegs.
Das hat man offensichtlich in Brüssel sowohl im Nato-Hauptquartier als auch in den EU-Institutionen anders bewertet – und sich vorbereitet. Ein Sprecher bestätigte sehr viel später, dass man bereits ab etwa Ende Oktober, spätestens aber im November intensiv an Plänen gearbeitet habe, um Russland im Fall der Fälle entgegenzutreten.
Waffenlieferungen waren und sind ein hart umstrittenes Thema in der EU. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte noch im Januar vor einer „militärischen Eigenlogik" und plädierte dafür, "der Diplomatie eine Schneise freizuhalten". Auch Deutschland blieb bis dahin bei seiner zurückhaltenden Positionierung. Zum gleichen Zeitpunkt hatte die USA bereits eine zweite Waffenlieferung im Rahmen einer 200-Millionen-Dollar Militärhilfe Richtung Ukraine auf den Weg gebracht.
Jean Asselborns Warnung vor einer „militärischen Eigenlogik" sollte sich im Verlauf der ersten Kriegstage und -wochen bestätigen. Die EU genehmigte im März weitere 500 Millionen für die Lieferung von Waffen und Ausrüstung.
Gleichzeitig hat die EU massivste Sanktionspakete gegen Russland beschlossen, einstimmig. Josep Borrell befand allerdings nach einem gemeinsamen Treffen mit von der Leyen und Präsident Selenski in Kiew im April: „Sanktionen sind wichtig, aber Sanktionen werden das Problem der Schlacht im Donbass nicht lösen." Damit war das Dilemma beschrieben, das der EU-Doppelstrategie naturgemäß innewohnt. Sanktionen sind auf mittlere und längere Sicht angelegt, denn auf totale Vernichtung angelegte russische Angriffe können sie kurzfristig an der Front nicht stoppen, das kann allenfalls eine gut unterstützte und ausgerüstete ukrainische Armee. Die hatte Russland offenbar zunächst ebenso unterschätzt wie die erstaunliche Einigkeit der Europäer – und deren Bereitschaft zu Entscheidungen, die zuvor kaum möglich schienen. Unvorbereitet und blauäugig war die EU jedenfalls nicht.
Das zähe Ringen um eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist im Grunde so alt wie die Gemeinschaft selbst. Pläne in den Anfangsjahren zu einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft kamen historisch zu früh und waren zum Scheitern verurteilt. Stattdessen wurde die Nato Garant europäischer Sicherheit. Diese Gewissheit hatte aber in jüngster Vergangenheit zunehmend mehr und tiefere Risse bekommen.
„Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen können, die sind ein Stück vorbei", hat Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel vor fünf Jahren festgestellt. Die Idee eines „sicheren Europas" aus eigener Stärke bekam einen ganz neuen Drive. Knapp zwei Jahrzehnte, in denen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eher von einer „Friedensdividende" denn von einer besonders aktiven Verteidigungs- und Sicherheitspolitik die Rede war, sorgte ausgerechnet ein amerikanischer Präsident dafür, dass in Europa ein neues Denken Fuß fasste.
Spätestens mit der Präsidentschaft von Donald Trump war klar, dass die Europäer ihr „sicheres Europa" selbst in die Hand nehmen müssen. Beobachter und Experten hatten schon früher dafür geworben. Denn schon unter Präsident Obama hatten sich die US-amerikanischen Blickwinkel verschoben. Statt Atlantik wurde der Pazifik zur prioritären Zone, und die Signale waren deutlich: Europa muss selbst mehr für die eigene Sicherheit tun. Das Wie zeigte sich aber wegen der höchst unterschiedlichen Traditionen und Interessenlagen der Mitgliedsstaaten als äußerst komplexe Herausforderung.
„Die EU bleibt eine Friedensmacht"
Die Grundlage für eine militärische Zusammenarbeit hat der Vertrag von Lissabon (2009) gelegt, entscheidend Bewegung in der Sicherheitspolitik gab es 2017, symbolisch zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge, die quasi als Geburtsurkunde der heutigen EU gelten. 25 Mitgliedsstaaten einigten sich auf PESCO (Permament Structured Cooperation), eine der wichtigsten Verteidigungsinitiativen der EU. Jean-Claude Juncker forderte 2017 als EU-Kommissionspräsident eine funktionierende europäische Verteidigungsunion bis 2025. Das Zauberwort dazu hieß „strategische Autonomie".
Der Prozess mit der Strategie, Souveränität durch stärkere Verteidigungsfähigkeit zu sichern, ist schon länger in einer dynamischen Entwicklung. Eine engere und vertiefte Zusammenarbeit hat sich bereits schrittweise entwickelt. Der Krieg in der Ukraine hat aber auch –
durchaus bekannte – Schwächen offengelegt. Dass man den drängenden Warnungen vor Absichten des Regimes Putin aus den östlichen Mitgliedsstaaten nicht die Aufmerksamkeit geschenkt hat, die sie verdient hätten, wird in westlichen Hauptstädten eingeräumt. Und dass das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel (Rüstungsausgaben), eigentlich in der Nato gemeinsam beschlossen, aber in der EU vielfach nicht erreicht, eine ernste Berechtigung hatte, wird inzwischen auch weitgehend anerkannt. Die weitere massive Unterstützung der Ukraine ist aus Brüsseler Sicht ebenso eine drängende Selbstverständlichkeit wie es gleichzeitig auch Kritik daran gibt.
Die Diskussion ist zwingend geboten. Schließlich geht es um nichts weniger als die Frage, wie sich das Grundselbstverständnis der EU entwickelt, wenn sich Verteidigungs-, Sicherheits- und Außenpolitik verändern (müssen).
Europa (im Sinne der EU) war bislang ein historisch und global einzigartiges Friedensprojekt, so erfolgreich, dass dieser eigentliche Kern zur gewohnten Selbstverständlichkeit geworden ist – und jetzt vor einer einzigartigen Herausforderung steht. Die ausgewiesene Expertin in Sachen EU-Sicherheitspolitik und Vize-Direktorin des Jacques Delors Centres, Nicole Koenig, formuliert ihre Erwartungen in einem Interview: „Die EU bleibt eine Friedensmacht, aber der Krieg in der Ukraine zeigt natürlich, dass sich die EU noch viel stärker für diesen Frieden einsetzen muss".