Die Europäische Union steht mitten in einem Prozess, sich neu zu erfinden. Mit großen Ambitionen: erster klimaneutraler Kontinent mit einer starken Stimme im globalen Konzert. Als Antwort auf Putins Krieg zeigt die EU ungeahnte Einigkeit und Stärke.
Er hatte ambitionierte europäische Pläne und wollte den günstigen Zusammenfall von EU-Ratspräsidentschaft und französischer Präsidentschaftswahl nutzen. Sie hatte eine klare Agenda, mit der sie in die zweite Hälfte ihrer Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin durchstarten wollte. Die Pläne für das erste Halbjahr 2022 waren lange geschmiedet, aber die Agenda hat sich bekanntlich massiv verändert: Emmanuel Macron und Ursula von der Leyen mussten gemeinsam mit EU-Ratspräsident Charles Michel und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell die Gemeinschaft durch eine bislang einzigartige Herausforderung steuern und gleichzeitig das Kunststück meistern, die große europäische Agenda deshalb nicht ins Stocken geraten zu lassen.
Der Krieg in der Ukraine hat der EU alles abverlangt, und sie hat sich in diesem ersten Halbjahr 2022, das vielfach – und sicher zu Recht – bereits jetzt als ein historisches bezeichnet wird, in einer Verfassung gezeigt, die viele überrascht hat. Allen voran vermutlich Russlands Präsident Putin, der mit seinem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine die EU insgesamt ins Visier genommen hat.
Die hat sich bislang in einer Einigkeit gegen den Aggressor gezeigt, die kaum jemand der EU zugetraut hätte. Massive Sanktionspakete, Geld für Waffenlieferungen und zuletzt die Beitrittsperspektive für den angegriffenen Staat und das ebenfalls bedrohte Moldawien sind die äußerlich wahrnehmbaren starken Signale. Dahinter stehen aber auch wahre Meisterleistungen, um den üblicherweise sehr diskussionsfreudigen Club oft störrischer und widerspenstiger Mitgliedsstaaten auf klarer Linie zu halten.
Die Einigkeit ist fragil, sicherlich, aber die EU hat bewiesen: Wenn es wirklich ernst wird und existenziell darauf ankommt, dann steht die EU und ist bereit, zur Verteidigung ihrer Grundwerte innere Konflikte zu überwinden oder zumindest zurückzustellen und sich darauf zu besinnen, warum es sie eigentlich gibt – und warum alleine das schon ein Wert an sich ist.
Rückbesinnung auf die Grundwerte
Als Ursula von der Leyen, die bei der Europawahl 2019 nicht einmal kandidiert hatte, nach der Wahl als Überraschungs-Kommissionspräsidentin präsentiert wurde, hatte es massive Kritik an diesem Verfahren gegeben. Jetzt, in Kriegszeiten, dürften es viele, nicht nur in den europäischen Institutionen, als gute Entscheidung ansehen, dass eine langjährige Verteidigungsministerin, die auch schon mal als mögliche Nato-Generalsekretärin im Gespräch war, an der Spitze der EU steht.
Auf ihrer Agenda für dieses Jahr standen ursprünglich ganz andere Themen. „Europa gemeinsam stärker machen" steht ziemlich allgemein über dem Arbeitsprogramm der EU-Kommission für 2022. Darunter sind dann die Großprojekte aufgelistet, mit denen Europa seinen „Einfluss in einer sich rasch wandelnden Welt stärken und seine Werte schützen" will: einen Green Deal für einen klimaneutralen Kontinent, eine umfassende, milliardenschwere Digitalstrategie, den Aufbaufonds „Next Generation EU" für nachhaltige und soziale Transformation.
Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik profiliert sich die EU zusehends. Bemerkenswert, dass im Arbeitsplan bereits formuliert wurde: „Wir werden versuchen, die Arbeiten zur Schaffung einer europäischen Verteidigungsunion zu beschleunigen."
Gleichzeitig laufen Projekte zur inneren Neu-Orientierung der EU, die teilweise sicherlich aufgrund der Pandemie in den letzten beiden Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung weniger Aufmerksamkeit gefunden haben. Beispielsweise die „Konferenz zur Zukunft Europas", die in einem Bürgerdialog weitreichende Reformvorschläge vorgelegt hat. Das ambitionierte Ziel einer bürgernahen EU: „Unsere Union muss eine Seele und eine Vision haben". Nicht umsonst ist 2022 als das „Europäische Jahr der Jugend" gestartet worden.
Die Agenda der Kommission zielte darauf ab, die großen Projekte zur wirtschaftlichen, sozialen und rechtsstaatlichen Weiterentwicklung voranzutreiben.
Gleichzeitig sieht sich die Union in einer „weltweiten Führungsrolle" in Bereichen wie Pandemiebekämpfung, Klimaschutz, Förderung einer „starken, offenen und fairen Handelspolitik" sowie bei der „Wahrung einer auf Regeln basierenden internationalen Ordnung".
Gerade die Letzteren sind nicht erst jetzt, aber jetzt vor allem durch die globalen Folgen des Ukraine-Kriegs massiv in Gefahr.
Auch Macron musste seine spezielle Agenda für die sechs Monate turnusgemäße Ratspräsidentschaft schnell anpassen. Dennoch ist es Frankreich in dieser Zeit ausweislich der überwiegenden Zahl von Einschätzungen gelungen, eine beachtliche Reihe von Projekten trotz Überlagerung durch den Krieg voranzubringen. Das gilt beispielsweise für die digitalen Gesetzespakete „Digital Services" und „Digital Markets Act", die Konzerne wie Google, Apple, Amazon oder Facebook etwas mehr an die Kandare nehmen. Eine wenig glückliche Figur machte Macron bei seinen Versuchen, den Gesprächsfaden mit Kriegstreiber Putin nicht abzureißen zu lassen. Ansonsten dürfte ihm die gesamte Entwicklung sehr entgegengekommen sein, schließlich wird er seit Jahren nicht müde, für eine „strategische Autonomie" Europas zu werben.
Ambitionierte To-do-Liste
Bemerkenswert in diesem Halbjahr auch, wie anders sich Polen bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine zeigt. Zwar sorgte der Umgang mit Kriegsflüchtlingen, die aus einem Nicht-EU-Land stammen, immer wieder für negative Schlagzeilen, in der Gesamtheit aber leistet Polen anerkennenswerte Arbeit. Beobachter sehen Indizien, dass die Herausforderung und die selbst empfundene Bedrohung Polen wieder näher an die EU rücken.
Der ohnehin schwierige Viktor Orbán wirkt nach seiner Wiederwahl noch hartleibiger. Der Umgang mit ihm, dem Kritiker gar eine „Putinisierung" Ungarns vorwerfen, dürfte noch problematischer werden.
Gleichzeitig hat der Krieg in der Ukraine eine Entwicklung wieder befördert, die zuvor eigentlich kaum jemand mit großem Nachdruck forcieren wollte: die Erweiterung. Im zähen Ringen um einen möglichen Beitritt der Balkan-Länder gab es zwar keine größeren Fortschritte, dafür stehen aber die Ukraine und deren Nachbar Moldawien auf der Liste. Ein klares politisches Signal und ein weiterer Tabubruch. Denn bislang galt als ausgeschlossen, mit einem Land im Kriegszustand über solche Fragen zu reden. Andere Tabus der Vergangenheit, wie die Finanzierung von Waffenlieferungen, sind ebenfalls überwunden worden.
Entgegen landläufigen Eindrücken hat sich die EU schon in der Vergangenheit bei entscheidenden Herausforderungen immer als ein ziemlich flexibles Konstrukt erwiesen. Das war und ist auch nötig, wenn es gilt, einen Haufen selbstbewusster und eigenwilliger Mitgliedsstaaten auf eine Linie zu bekommen. Derzeit steht diese Linie – Differenzen in Einzelfragen inbegriffen. Und das Erstaunliche ist: Trotz der extremen Herausforderungen durch den russischen Einmarsch schafft es die EU offensichtlich, die anderen großen Zukunftsfragen, fokussiert in den Schlagwörtern „Fit for 55" und „Next Generation EU", weiter auf der Agenda zu halten.
Eine „widerstandsfähige Union für eine florierende Zukunft" und eine Union „mit Seele und Vision" – das sind schon reichlich pathetische Sätze, notiert noch vor Ausbruch des Krieges.
Europa war immer schon ein sehr pathetisches Projekt. Das war und ist vermutlich auch nötig, um die Geduld für die oft mühsam erkämpften kleinen Fortschritte aufzubringen. Die Herausforderungen, die ohnehin auf der Agenda standen und stehen, sind für sich alleine schon beträchtlich und die Ziele höchst ambitioniert. Jetzt ist eine weitere existenzielle Herausforderung dazugekommen. Und die EU zeigt sich dabei bislang in einer Verfassung, die ihr vorher nicht unbedingt zugetraut worden wäre.