Die Corona-Politik hat die Gesellschaft in den vergangenen zweieinhalb Jahren gespalten. Während sich einige schon in einer Diktatur wähnen oder sie befürchten, streiten andere beherzt für die Demokratie.
Vor Kurzem war in Berlin eine Performance über die chinesischen Umerziehungsmethoden an Menschen der uigurischen Minderheit zu sehen. Es ging um Zwang, Inhaftierung und staatliche Überwachung. Während das china-kritische Kulturevent in dieser Woche zu Ende ging, begann in der deutschen Hauptstadt zeitgleich die „Woche der Demokratie". Organisiert ist das Ganze von „Wir sind Viele", einem Sammelsurium verschiedener Gruppen wie etwa Nachbarschaftsdialog, Pflege für Aufklärung, Freedom Parade, die Basis, Eltern stehen auf und anderen. In einer Pressemitteilung der Veranstalter hieß es, dass man sich für „die Einhaltung und Beachtung der Grund- und Menschenrechte selbst in Krisenzeiten einsetzen" würde. Die Auftaktveranstaltung begann am vergangenen Wochenende mit einer Demonstration. So breit das Themenspektrum, so divers waren die Teilnehmenden: Die einen forderten die Freilassung von Wikileaks-Gründer Julian Assange, die anderen protestierten gegen die Nato und die Dritten verwahrten sich gegen einen Impfzwang.
Pluralistischer Meinungsdiskurs
Ist Demokratie überhaupt ein Thema in einem Rechtsstaat wie Deutschland, wenn man anderswo Gefahr läuft, allein für die freie Meinungsäußerung ins Gefängnis zu kommen? Ist es nicht vermessen, nach Lecks in der hiesigen Demokratie zu suchen, wenn anderswo immer noch Folter und Steinigung, Zensur und Straflager gang und gäbe sind? Die Mainzer Rechtsanwältin Jessica Hamed hält diesen Vergleich für einen „sehr niedrigschwelliger Anspruch, den man an einen demokratischen Rechtsstaat" habe. „Dass man sich nicht an Ländern wie Türkei, Russland und China orientiert, dürfte auf der Hand liegen", sagt sie im Gespräch. Das sei kein Vergleichsmaßstab, kein Argument, denn man müsse sich am Ideal orientieren und könne sich nicht damit begnügen, dass es woanders schlimmer sei. Und dennoch: „Die Demokratie war nie weg, wir hatten auch keine Diktatur, das ist klar". Allerdings habe die Corona-Pandemie-Bekämpfung zu erheblichen „Demokratiedefiziten" geführt, insbesondere auch was den notwendigen pluralistischen Meinungsdiskurs betrifft.

Demokratie über Veranstaltungen in einer breiten Öffentlichkeit zu verhandeln, ist nicht neu. Sie wird sogar von staatlicher Seite aus gefördert. So etwa die „Koblenzer Wochen der Demokratie", die regelmäßig seit 2019 im September stattfinden. Initiatoren sind unter anderem die Koblenzer Kulturdezernentin Margit Theis-Scholz. Die Demokratiewochen werden unter anderem durch das vom Bundesfamilienministerium ins Leben gerufene Programm „Demokratie leben!" gefördert. Die Veranstaltungsreihe soll „in dem Bewusstsein" geschehen, so heißt es weiter auf der Homepage, dass Demokratie „keine Selbstverständlichkeit" sei, dass sie vielmehr ständig gepflegt, diskutiert, verteidigt werden müsse und ihre Grenzen neu ausgelotet werden müssten. Anlass für die „Koblenzer Wochen der Demokratie" ist mitunter die so genannte „Rittersturzkonferenz". Auf dem Koblenzer Rittersturz, einem Felsvorsprung am Stadtrand, stand bis in die 1970er Jahre ein Tagungshotel, in dem 1948 entscheidende Beratungen zur Verfassung des Grundgesetzes stattfanden. Auch im bayrischen Passau finden seit 2019 die „Wochen zur Demokratie" statt.
Gewaltenteilung hat nicht gut funktioniert
Während der Corona-Krise wurden die Grundrechte massiv eingeschränkt. So einschneidend wie noch nie wie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das sieht auch die Juristin Jessica Hamed so. Die „Hammermethode Lockdown" etwa bewertet sie als einen „Tabubruch". Denn, so sagt sie: „Hier hat sich ein freiheitlich demokratischer Staat innerhalb kürzester Zeit in einen autoritären Verbotsstaat verwandelt". Dabei sei das Grundgesetz die Garantie für eine funktionierenden demokratischen Rechtsstaat. „Es ist eine Art Gesellschaftsvertrag, in dem fundamentale Rechte gesichert sind. Dieser Vertrag wurde wie alle Verträge zum Beispiel Eheverträge, Kaufverträge et cetera, nicht hauptsächlich für gute Zeiten geschlossen, sondern er muss sich vor allem in Krisenzeiten bewähren." Grundrechtseinschränkungen gebe es in einer Gesellschaft, in der stets Bedürfnisse gegeneinander abgewogen werden müssten, immer, erläutert die Juristin. „Es geht hier um diese Art von Einschränkungen, die es noch nie zuvor gab. Das Individuum wurde quasi vollständig zugunsten des Kollektivs verdrängt – dabei steht Freiheit in einem auszutarierenden Spannungsfeld zwischen individueller und kollektiver Freiheit." Das Problem, was sie hier sehe, sei, dass man sich als Gesellschaft an derart massiv eingeschränkte Grundrechte gewöhnen könne. „Wenn man das einmal durchlebt hat, dann kann es eben auch eine Blaupause für den Umgang mit weiteren Krisen sein, weil es ja schon eingeübt ist. Was vor Corona undenkbar war, wie etwa das völlige Herunterfahren der Wirtschaft, ist plötzlich eine Option, psychologisch nennt sich das ‚shifting baseline‘" Zudem befürchtet sie, dass es auch „zu einer Verstetigung einzelner Maßnahmen" kommen könnte, so wie in der Vergangenheit bei den Antiterrorismusgesetzen. „Das sollte alles nur vorübergehend sein, aus einer Krisensituation oder besonderen Situation heraus, wurde aber beibehalten."Auch ist sie der Meinung, dass die Gewaltenteilung während der Krise nicht gut funktioniert hat. Die verschiedenen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative müssten sich gegenseitig kontrollieren. „Die Parlamente haben sich im Krisenmanagement zumindest im ersten Jahr komplett zurückgehalten", kritisiert sie. So hätten die Parlamente letztlich den Gerichten die Kontrollfunktion allein überlassen. „Doch die Gerichte haben im Wesentlichen alles mitgetragen, haben allenfalls punktuell hin und wieder kleine Dinge beanstandet, aber das Gesamtkonzept wurde nicht in Frage gestellt." Dadurch hätte man drei Staatsgewalten, die sich im Prinzip nicht gegenseitig kontrolliert, sondern gegenseitig bestätigt und versucht hätten, sich nicht in den Rücken zu fallen. Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes zur Bundesnotbremse, bei der unter anderem es um Schulschließungen und um Ausgangssperren ging, waren ihres Erachtens „klare Fehlentscheidungen". Denn so habe das Bundesverfassungsgericht dem Staat signalisiert, dass es in Krisenzeiten keine rote Linie gebe. Kritik übt die Juristin auch an den Medien als sogenannte vierte Gewalt. „Die Aufgabe von Medienschaffenden, insbesondere in öffentlich-rechtlichen Medien, wäre gewesen, kritisch zu hinterfragen und nicht eben so zu berichten, als wären sie Regierungssprecherinnen und Regierungssprecher." Eine Medienstudie der Universität Passau von 2020 stützt den Befund der Juristin.
Sorge bereitet der Anwältin eine Allensbach-Studie vom vergangenen Jahr. „Sie hatte das erschreckende Ergebnis, dass die Mehrheit der Menschen der Meinung ist, dass die Meinungsfreiheit hier gefährdet ist, dass man nicht mehr sagen könne, was man denkt." Das sei ein „ganz furchtbare Befund". Denn, „wenn Menschen glauben, sie können nicht mehr sagen, was sie denken – ob das jetzt berechtigt ist oder nicht – dann werden sie sich wahrscheinlich auch nicht mehr äußern, sich nur noch in ihren eigenen Filterblasen bewegen und möglicherweise auch radikalisieren, egal bei welchem Thema." Radikalisierungstendenzen entgegentreten möchte anscheindend die Fernsehmoderatorin Dunja Hayali. Ab September soll in der Berliner „Urania" regelmäßig ein „Demokratie-Salon" stattfinden. Dort will die Journalistin eine Person des öffentlichen Lebens einladen, die für „unsere Demokratie streitet". Außer der Parteienkrise habe auch die Corona-Pandemie die Gesellschaft vor eine „gewaltige Herausforderung" gestellt, heißt es dazu. „Eine weitere Spaltung der unterschiedlichen Milieus droht."