„Mein Liebermann. Eine Hommage." ist die Präsentation der Alten Nationalgalerie Berlin zum 175. Geburtstag des Malers, der wie kaum ein anderer für deutsche Zeitgeschichte steht.
Die Alte Nationalgalerie in Berlin nähert sich dem Jubiläum des Künstlers Max Liebermann (20. Juli 1847 bis 8. Februar 1935) audiovisuell: Sie lässt 14 ganz unterschiedliche Personen über Werke aus ihrer Sammlung von 22 Gemälden Liebermanns sprechen. Die Bildbetrachtungen – meist aus Laiensicht – wurden gefilmt und sind zeitgleich zur Ausstellung „Mein Liebermann. Eine Hommage." und darüber hinaus auf Youtube abrufbar. Dem Direktor der Alten Nationalgalerie, Ralph Gleis, und seinem Team ist damit nicht nur Kunstvermittlung auf Augenhöhe mit fast jeder denkbaren Besuchergruppe gelungen. Sie nutzen digitale Medien und kommen damit auch möglichen Corona-Beschränkungen im Herbst zuvor, denn die Sonderpräsentation auf der Berliner Museumsinsel dauert bis zum 11. November.
Warum sind die Bilder Max Liebermanns heute überhaupt noch so aktuell – und auch beliebt? Schaut man auf sein 87-jähriges Leben, ist man zunächst beeindruckt, welche gesellschaftlichen Strömungen und politischen Wandlungen er durchlaufen musste. Er wurde in Berlin als eines von sechs Kindern in eine jüdische Industriellenfamilie geboren. Es war eine liberale Phase in Preußen. Soeben erhielten jüdische Bürger mehr Rechte und konnten nun Staatsämter und ordentliche Professuren übernehmen. Doch der junge Max interessierte sich nicht für ein prestigeträchtiges Studium wie Medizin oder Jura. Er wählte Chemie, beschäftigte sich aber bevorzugt mit Zeichnen und Malen, worin er sich seit dem zwölften Lebensjahr übte.
Den Weg an die Großherzogliche Kunstschule Weimar musste er sich gegenüber seinen Eltern hart erkämpfen. Bald brachte der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 eine Zäsur: Liebermann ließ sich als Sanitäter rekrutieren und diente in Metz. Aus dem folgenden Jahr stammt das erste Gemälde „Gänserupferinnen", das in der Alten Nationalgalerie vom Direktor des Landesmuseums Darmstadt, Martin Faass, vorgestellt wird. „Für mich ist es immer unerhört gewesen, dass Liebermann als 24-jähriger Student dieses irre Bild malt", sagt er dazu. Mit einem Paukenschlag begründet der Künstler damit seinen Ruf als Maler der Hässlichkeit.
Gegen den Willen der Eltern
Man sieht acht Frauen, die völlig in ihre Arbeit, geschlachteten Gänsen die Federn auszurupfen, vertieft sind. Allein schon durch die Größe von 118 mal 172 Metern ist es ein Statement. Doch das Revolutionäre und von der Presse Skandalisierte war die Darstellung einfacher Bauernfrauen in einem Format, das bis dahin erhabenen religiösen Darstellungen und glorifizierter Historienmalerei vorbehalten war. Dabei setzt Liebermann in diesem dunkel gehaltenen Bild bewusst helle Akzente bei den Gänsen sowie den Hauben und Blusen der Frauen. Man meint auch, den Einfluss Rembrandts zu erkennen, mit dessen Werk ihn sein belgischer Lehrer vertraut gemacht hatte.
Und dann geschieht das Erstaunliche: Der erfahrene Sammler und Eisenbahnmagnat Bethel Henry Strousberg erwirbt das „hässliche" Gemälde. Damit hätte vor allem Liebermanns Vater nie gerechnet. Das weitere Kunststudium des Sohnes, der sich seine erste Studienreise in die Niederlande noch vom Bruder finanzieren lassen musste, hat jetzt seinen Segen.
Die Video-Arbeit in der Alten Nationalgalerie geht im begleitenden Booklet chronologisch vor. Im Haus prangt jeweils ein QR-Code beim Original-Gemälde. Man kann die rund zweiminütigen Clips vor Ort abspielen oder zu Hause nachhören. Auch die nächsten vorgestellten Bilder sind realistisch und unsentimental. Man sieht die Amsterdamer Waisenmädchen und die dortige Kleinkinderschule. Im Gegensatz zu den süßlichen Jungmädchenporträts seines Zeitgenossen Pierre-Auguste Renoir zeigt Liebermann eine schlichte Realität. Auch bei ihm sind die Frauen zwar Individuen, aber nicht als „Impressionisten-Pin-ups", sondern gezeichnet von ihrer harten und eintönigen Arbeit, gekleidet in derbe Stoffe.
Ein Höhepunkt dieser Darstellung ist die „Flachsscheuer in Laren" (1887); es war das erste Liebermann-Werk, das die Nationalgalerie erwarb: Eine Gruppe junger Frauen spinnt die Flachsfäden, die ihre Kollegen und Kolleginnen durch Drehen der hölzernen Spinnräder erzeugen. Auffällig sind die groben Holz-Clogs der Arbeiterinnen auf dem Dielenboden; es ist ein Produktionsprozess, der auf die sich entwickelnde Industrialisierung hinweist. „Man spürt, dass da hart gearbeitet wird, es ist in keinster Weise beschönigt", kommentiert Charlotte Paulus vom Verein der Freunde der Nationalgalerie das Bild.
Harte Arbeit und schlichte Menschen
Der Direktor der Alten Nationalgalerie, Ralph Gleis, hat sich für seinen Beitrag das „Stevenstift in Leiden" (1890) ausgesucht: „Das Bild fängt mit seiner reliefhaft gespachtelten Farbe unterschiedliche Lichtstimmungen ein", beschreibt er ein weiteres Charakteristikum von Liebermanns Arbeiten. Hier begegnet man bereits dem großen Interesse des Künstlers, Gärten als Bildthema dazustellen – ein Aspekt, den jeder mit Liebermann verbindet, sobald er einmal seine Villa in Wannsee besucht hat. „Dieses Werk vereinigt für mich schon den alten und den jungen Liebermann", sagt Gleis, „daher ist es eines meiner Lieblingswerke von ihm."
Zu dieser Zeit liegen Liebermanns Aufenthalte in den Niederlanden, Italien und München bereits hinter ihm. Er hat in Berlin eine Familie gegründet und engagiert sich in der Künstlervereinigung Berliner Secession. Die Mitgliedernamen Käthe Kollwitz, Lovis Corinth und Walter Leistikow lassen schon erkennen, dass sie eine neue Richtung einschlagen – und Liebermann wird ihr erster Präsident. Damit gehen sie auf Konfrontation zur Akademie-Malschule unter Wilhelm II., dem Kaiser, der Liebermann für einen Anarchisten und „Rinnsteinkünstler" hielt.
Ab 1909 bebaute die Familie Liebermann ein Grundstück am Wannsee mit einer Villa und Garten und verbrachte die folgenden Sommer dort. „Die Gartenbank" (1916), „Haus am Wannsee" (1926) und „Blumenstauden am Gärtnerhäuschen nach Norden" (1928) sind Werke in der Alten Nationalgalerie, die jeden Betrachter spontan ansprechen. Das satte Grün dominiert das harmonische Refugium während des Ersten Weltkriegs, der Revolution und der unruhigen Weimarer Republik. Heute kann man die Anlage wieder besichtigen. In der Liebermann-Villa am Wannsee läuft noch bis 19. September 2022 die Ausstellung „Küste in Sicht! Liebermann in Noordwijk". Auch dorthin, an die holländische Nordseeküste, zog es den Künstler zwischen 1905 und 1913 fast jedes Jahr.
Die Museumsaufsicht Carola Schultz steuert in „Mein Liebermann" eine kundige Besprechung eines Selbstporträts von 1925 bei. Sie ordnet sein Bild in die gesellschaftliche Entwicklung ein und tut dies authentisch aus Berliner Perspektive. Sie weiß, dass die „Goldenen Zwanziger" eine Zeit der Widersprüche waren, in der Liebermann zu einer privilegierten reichen Schicht gehörte, während der Großteil der Bevölkerung Not litt. Der Maler verfolgte das Aufkommen der nationalsozialistischen Strömung aufmerksam. Ihm war bewusst, dass die politischen Versprechungen, die aus dem allgemeinen Elend führen sollten, Rattenfängersprüche waren, die letztendlich Hitler an die Macht brachten. Hier fällt Liebermanns berühmter Satz: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte."
Liebermann stirbt 1935 in Berlin. Man ist versucht zu denken, er habe glücklicherweise das Schlimmste nicht mehr erleben müssen. Seine Frau Martha nimmt sich im Frühjahr 1943 das Leben, um sich einer Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt zu entziehen. An der Stelle, wo das Palais Liebermann direkt neben dem Brandenburger Tor stand – und nach der Wende wieder ein „Liebermann Haus" aufgebaut wurde – befindet sich ein Stolperstein für sie.
Liebermanns Wohnhaus zum Nachspüren
Besucher haben dort (Pariser Platz 7) die Möglichkeit, Liebermanns Wohnung per Virtual Reality nachzuempfinden, inklusive des Musikzimmers und seines berühmten Glas-Ateliers unter dem Dach. Neben der permanenten Dokumentation „Liebermanns Welt" werden dort zeitgenössische Positionen gezeigt. Und am 6. Oktober, 19 Uhr, gibt es eine Lesung zum Schicksal von Max und Martha Liebermann im Dritten Reich mit Hannelore Hoger und Thomas Thieme (siehe Infokasten).
So finden sich in Liebermanns Heimatstadt drei Ausstellungsorte, die nicht nur zum 175. Geburtstag an ihn und prägende deutsche Geschichte erinnern. Insbesondere in der Schau in der Alten Nationalgalerie wird deutlich, wie der Maler nicht nur künstlerisch voranschritt, sondern auch die sich wandelnde Rolle der Frau, wirtschaftliche Umbruchsituationen und politischen Radikalismus antizipierte.
Die subjektiven Video-Interpretationen in „Mein Liebermann" sind bewusst niederschwellig gehalten und bieten für einen informierten Besucher wenig neue Erkenntnisse. Aber im Rahmen der Kunstvermittlung – die ja auch Liebermann selbst so wichtig war – und um neue Zielgruppen zu erschließen, ist der Ansatz ein guter Weg. Nicht zuletzt muss man als Kurator immer noch Corona mitdenken, das im ungünstigsten Fall zu einer erneuten Verlagerung der Bildbetrachtung ins Internet führen kann.