Der Erinnerungspfad Höckerlinie Otzenhausen bringt die Relikte des Westwalls zum Sprechen. Das Projekt steht als Ort der Geschichte sowie als Open-Air-Kunstgalerie Besuchern offen.


Es ist ja wirklich schon Gras darüber gewachsen." „Und genau das darf niemals passieren." Dieser Dialog zwischen Katrin und Raimund Dahmen war der Ausgangspunkt für das bürgerschaftliche Engagement, das aus den Relikten des Westwalls in dem idyllisch gelegenen Ort im Grenzgebiet zwischen Saar und Hunsrück vor fünf Jahren den Erinnerungspfad Höckerlinie Otzenhausen entstehen ließ.
Schnell waren fünf Mitstreiter gefunden: Wolfgang und Ulrike Gärtner, Rüdiger Weiß, Thomas Finkler und Erich Scherer. Sie bildeten die Projektgruppe Erinnerungspfad. Doch wie entreißt man etwas, das nur viele allzu gern vergessen möchten, dem Dornröschenschlaf? Hierfür braucht man ein gutes Konzept, das mehr als nur erinnern möchte. Ein Konzept, das auch in die Zukunft weist, das Generationen übergreifend Interesse weckt, das nicht mit dem erhobenen Zeigefinger arbeitet, sondern zur Reflexion motiviert. Kurzum: Es muss ein nachhaltiges Kunst- und Erinnerungsprojekt sein, das nicht nur Fakten liefert, sondern auch Emotionen weckt und den Blick zurück und in die Zukunft zum Ziel hat.
Kein leichtes Unterfangen, und vor allem nichts, was man aus dem Ärmel schüttelt und sich selbst überlässt. Dieses Kunst- und Erinnerungsprojekt muss sich stetig weiterentwickeln.
Und genau daran arbeiten die „geschichtsbewussten Sieben". Mit viel Enthusiasmus aber auch mit beruflicher Kompetenz formen sie seit 2017 aus dem einstigen Bollwerk gegen die Alliiedrten ein Mahnmal gegen Rassismus und für eine Gesellschaft, in der Vielfalt, Frieden, gegenseitiges Verstehen und Völkerverständigung vorherrschen. „Wir kümmern uns darum, dass über die Höckerlinie gerade ‚kein Gras wächst‘", so formulieren es die Mitglieder der Projektgruppe.
Generationen-übergreifend


Auf drei Säulen ruht das Kunst- und Erinnerungsprojekt: Teile der von Müll und Bauschutt verschütteten und von Sträuchern zugewucherten Höckerlinie wurden freigeschnitten und die martialischen Eisenbetonblöcke wieder sichtbar gemacht. Besucher können nun durch die Höckerlinie laufen und das Bauwerk auch von innen erleben. „Dabei haben wir uns die Natur als Vorbild genommen, sie hat nämlich schon gute Arbeit geleistet." Über die Panzersperren ist mehr als nur Gras gewachsen. Es ist eine schützenswerte Flora und Fauna entstanden, ein neuer, wertvoller Lebensraum. Moose umhüllen den Beton, Heckenrosen und Gras, Buschwerk und Bäume wachsen zwischen den Höckern, überwuchern sie. „Nach dem Vorbild der Natur soll unser Erinnerungspfad einen Beitrag für die Gesellschaft leisten, das Begrenzende zu überwinden, Vielfalt zuzulassen und dadurch wertvollen neuen Lebensraum zu schaffen", erklärt Katrin Dahmen. „Hierbei rücken wir auch den europäischen Gedanken in den Vordergrund, der Grenzen überwindet und einer gemeinsamen Zukunft eine Form gibt", ergänzt Kerstin Adam, die seitens der „Stiftung Europäische Kultur und Bildung" das Projekt begleitet.
Die geschichtliche Einordnung des Bauwerks bildet die zweite Säule des Projekts. Auf Infotafeln in deutscher, französischer und englischer Sprache stehen Hintergründe zur Geschichte und zum Umfang des Westwalls. Auch Zeitzeugen kommen zu Wort. Ein geschickter Schachzug, machen die Erklärungen doch deutlich: Die Bevölkerung vor Ort wusste sehr genau Bescheid, dass mit dem Westwall erste Kriegsvorbereitungen in Gang gesetzt wurden. Und dass Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, die bei geringer Arbeitsdisziplin auch schnell im nur 20 Kilometer entfernten SS-Sonderlager und späteren Konzentrationslager Hinzert landen konnten.
Außerdem entlarven die Infotafeln den Mythos des Westwalls als Schutzwall, machen die zusammengetragenen Fakten doch deutlich, dass der Westwall in seiner Gigantomanie letztendlich dem deutschen Volk mehr Schaden als Nutzen brachte. Allein der rund ein Kilometer lange Erinnerungspfad in Otzenhausen umfasst circa 1.000 Höcker. Das heißt, dass 2.800 Kubikmeter Beton verbaut wurden. Und das in einer Zeit, als in den 1930er-Jahren in Deutschland rund 1,5 Millionen Wohnungen fehlten. Mit den „Drachenzähnen" – so nannte der Volksmund die Befestigungsanlagen – aus Otzenhausen hätte man für rund 150 Einfamilienhäuser die Bodenplatten erstellen können. Die Gefahr, die bauliche und militärische Leistung in den Vordergrund zu rücken, und damit der einstigen NS-Propaganda neue Nahrung zu geben, umging die Projektgruppe auf diese Weise klug.
Stationäre Kunstwerke

Die dritte Säule zielt auf den künstlerischen und pädagogischen Aspekt. An ausgewiesenen exponierten Plätzen erwarten die Besucher zum einen stationäre Kunstwerke von Werner Bärmann, Franz W. Schmidt, Wolfgang Gärtner und Siggi Feid. Sie kreisen um die Themen Krieg und Frieden und provozieren ein Nachdenken seitens der Betrachter.
„Was würde zum Beispiel ‚Der Rufer‘ – so nennt Werner Bärmann seine Plastiken aus Bronze und Marmor auf Metallstelen – heute ganz aktuell in die Welt hineinschreien?", fragt Katrin Dahmen mit Blick auf den Ukraine-Krieg. „Vielleicht würde er fragen, wie Deutschland und Frankreich es geschafft haben, von Erbfeinden zu Freunden zu werden? Oder wie die europäische Einigung gelungen ist?"
Die „Streetart auf Stahltafeln vor einem Wald aus Birken" von Franz W. Schmidt stellt die Besucher vor die Frage: „Wie konnte das geschehen?"
Siggi Feid und Wolfgang Gärtner haben drei Kunsträume geschaffen: Die Skulptur „Tide" möchte mit der Anspielung auf die Gezeiten (Tide) den Anstoß geben, sich mit Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem in unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen. Die Installation „Zug der Lemminge" erinnert mit den verbrannten Holzscheiten an Verbrennungen und Holocaust und steht für instinktgesteuertes Verhalten im Sog von Versprechungen. „Tuesday 45" (übersetzt: Dienstag 45) ruft Dienstag, den 8. Mai 1945, den Tag der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands ins Gedächtnis. Die zwei alten Blechspinde stammen von der ehemaligen Firma Goma in Nonnweiler-Mariahütte, die während des Krieges Häftlinge aus dem SS-Sonderlager Hinzert bei Hermeskeil und Zwangsarbeiter aus den von NaziDeutschland besetzten Gebieten zur Produktion von Rüstungsgütern einsetzte.
Über Geschehenes reflektieren

Die stationären Kunstwerke werden ergänzt durch temporäre Arbeiten, häufig angefertigt von Schulklassen oder Gruppen, die bei internationalen Begegnungen den Erinnerungspfad besuchen und unter pädagogischer Anleitung – und mit Erlaubnis der Künstler – die Installationen mit eigenen Ideen ergänzen.
„So besuchten kürzlich kanadische, amerikanische und österreichische Studenten den Erinnerungspfad", erzählt Katrin Dahmen. „Eine der Studentinnen sagte: ‚Ich würde mir wünschen, dass meine Enkel einmal diesen Pfad besuchen und erkennen, was Krieg bedeutet und wie bedeutsam die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland für unseren heutigen Frieden in Europa ist.‘ Eine andere sagte: ‚Nachdem ich das hier gesehen habe, verstehe ich besser, was meine Großeltern damals bewegt hat.‘ Diese Aussagen der jungen Leute haben mich wiederum sehr bewegt. Sie zeigen mir, dass unser Erinnerungsprojekt ein Nachdenken bei den Jugendlichen bewirkt hat."
Für die Mitglieder der Projektgruppe ist es jedes Mal ein beglückender Moment, wenn Besuchergruppen am Ende des Erinnerungspfades das Fazit ziehen: Wie schrecklich war der Krieg, und welch eine gigantische Leistung haben nach 1945 die europäischen Nationen vollbracht, um friedlich miteinander leben zu können. Dann hat der Blick in die Vergangenheit und die Anregungen, über das Geschehene zu reflektieren und daraus Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen, sein Ziel erreicht.