Matthijs de Ligt führte Ajax Amsterdam als 19-jähriger Kapitän ins Champions-League-Halbfinale. Der Wechsel zu Juventus Turin brachte seine Karriere ein wenig ins Stocken. Kann er der Abwehrchef des FC Bayern München werden?

Als Ajax einst den kleinen Matthijs in einem lokalen Verein vor den Toren Amsterdams zum ersten Mal beobachtete, hielten sie ihn zunächst für langsam und übergewichtig. Doch als der Scout den schlanken Vater des Talents an der Seitenlinie sah, war er beruhigt. Gute Sportlergene. Mit 16 Jahren bereits schaffte de Ligt dann tatsächlich den Durchbruch in die Erste Mannschaft. Das schien absurd jung für einen Innenverteidiger, aber de Ligt verfügte damals bereits über den Körper eines Erwachsenen. Schon nach wenigen Wochen verschob er Teamkollegen auf ihre Positionen auf dem Feld. Zudem besaß er die Fähigkeiten eines überraschend leichtfüßigen Dribblings, eines feinen Passes nach vorn und einer Gelassenheit im Spiel – selbst mit dem halben Feld im Rücken. Bei seinen Vorstößen kam er auf erstaunliches Tempo: Gebaut wie ein Lastwagen, konnte er sich in einer halben Sekunde in ein Motorrad verwandeln. Sein Spitzname in der Ajax-Kabine war „Fatty", Dickerchen, was etwas harsch klingt, da sein früheres Babyface längst einem Männergesicht gewichen ist. Sein Körper ist gewaltig, aber eigentlich nicht ideal für einen Abwehrspieler. Obwohl 1,88 Meter groß, hat de Ligt einen relativ langen Oberkörper und vergleichsweise kurze Beine, was seine Geschwindigkeit bei Richtungswechseln limitiert. Im niederländischen Fußballjargon heißt es, große Verteidiger bewegen sich zuweilen „auf Straßenbahnschienen". Aber de Ligt kompensiert dies mit seinem Perfektionismus. Weit davon entfernt, in jungen Jahren den internationalen Wirbel um seine Person zu sehr Glauben zu schenken, identifizierte er stets die eigenen Schwachpunkte und arbeitete an ihnen. Seine ersten Monate als Profi haben de Ligt geerdet. Mit 17 Jahren und 225 Tagen wurde er bei einem WM-Qualifikationsspiel in Sofia gegen Bulgarien im März 2017 der jüngste Debütant in der niederländischen Nationalmannschaft seit 1931. Doch die Bulgaren hatten ihn auch als Schwachstelle ausgemacht, zwangen ihn zu Fehlern und gewannen so 2:0. Diese Niederlage kostete Oranje letztlich die WM 2018.
Bei Ajax früh in der Verantwortung

Das Debakel von Sofia hat de Ligt jedoch nicht traumatisiert. Er gestand seine Fehler öffentlich ein, lernte aus ihnen und verbesserte sein Stellungsspiel. Zwei Monate später wurde er zum jüngsten Spieler, der jemals in einem Europapokalfinale stand. Mit Ajax verlor de Ligt zwar das Endspiel der Europa League 0:2 gegen Manchester United, doch er selbst gewann 69 Prozent seiner Zweikämpfe – der beste Wert seines Teams. Sein erster Berater, Barry Hulshoff, musste ständig den Karriereweg seines Klienten überarbeiten, denn de Ligt verschob einen Meilenstein nach dem anderen. Er war dem eigentlichen Zeitplan um Jahre voraus. Selbst die für Hochbegabte berühmte Ajax-Akademie hatte seit Clarence Seedorf keinen so frühreifen Spieler mehr produziert – das war 25 Jahre zuvor. Mit 18 wurde de Ligt Ajax-Kapitän. Dieser Bruch mit den ewigen Fußballhierarchien schockierte zunächst seine ausländischen Teamkollegen. Schnell aber wurde es für sie selbstverständlich. Denn de Ligt ist ein geborener Anführer, der damals schon wie ein 30-Jähriger spielte. Abseits des Feldes blieb er, wie er ist: mal heiter, mal still. Oder wie die Niederländer als ultimative Würdigung sagen: „normaal". Seine Kollegen zogen ihn dafür auf, dass er jeden Tag die gleichen zerschlissenen Adidas-Turnschuhe trug. Zu dieser Zeit wurde er mit dem Golden Boy Award ausgezeichnet – als erster Abwehrspieler überhaupt. Während die Gerüchteküche brodelte und der FC Barcelona als sicherer nächster Arbeitgeber des Talents gehandelt wurde, bekam dann überraschenderweise Juventus Turin den Zuschlag.
Aus Turin eher giftige Töne

In Turin spielte er insgesamt drei Jahre, und bei genauerer Betrachtung dieser Jahre wurde der Niederländer nie wirklich glücklich. Mit Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci war die Konkurrenz in der Innenverteidigung groß. Zudem war es im Allgemeinen für den Verein nicht leicht. Mit Andrea Pirlo als Trainer lagen die Verantwortlichen daneben. In der vergangenen Saison gab es dann nur den vierten Platz. Während in München riesige Euphorie über den Transfer herrscht, kamen aus Turin eher giftige Töne. Juventus- und Italien-Legende Leonardo Bonucci sagte nun in Richtung seines ehemaligen Verteidiger-Kollegen: „Er sollte mehr Respekt zeigen gegenüber der Mannschaft, die ihm in den letzten drei Jahren in seiner Entwicklung geholfen hat, und dem Club, der damals viel Geld in ihn investiert hat." Der Europameister erklärte im Interview mit der „Gazzetta dello Sport" weiter: „Manche Dinge, die er zuletzt bei der Nationalmannschaft sagte, waren nicht sehr nett." Welche „Dinge" Bonucci damit meinte, ließen sich nicht zweifelsfrei feststellen. Möglicherweise bezog sich der 35-Jährige auf Aussagen aus dem Juni. Damals hatte de Ligt im Kreise der niederländischen Nationalmannschaft gesagt, dass er das „beste sportliche Projekt" suche. Die Bianconeri hatten in der abgelaufenen Serie-A-Saison nur den vierten Platz belegt, was de Ligt als „nicht gut genug" bewertete. Bonucci sieht darin offenbar eine Respektlosigkeit des mittlerweile abgewanderten Abwehrspielers. Bonucci hatte de Ligt nach der Sommerpause auf seine Aussagen angesprochen, in einer Unterhaltung habe man die unterschiedlichen Standpunkte geklärt. „Er hat mich verstanden", betonte Bonucci weiter. Und er fügte an: „Mit Bayern ist er nun bei einem großartigen Club, aber man gewinnt auch nicht automatisch in solchen Teams."
Mehr Führung im Abwehrzentrum

Den Unterschied in der Spielweise der beiden Teams hat de Ligt direkt gemerkt. Sein Fitnesszustand ist definitiv nicht ausreichend. „Ich habe mit ihm nach dem Training gesprochen, und er sagte, die Trainingseinheit war die härteste in den letzten vier Jahren. Dabei war sie zwar hart, aber nicht so hart", erzählte der Coach der Münchner. Nagelsmann erklärte die noch nicht optimale Verfassung seines neuen Verteidigers mit einem Seitenhieb auf dessen ehemaligen Arbeitgeber Juventus Turin: „Er hat letzte Saison nicht so viele Minuten gespielt, und ich habe gehört, dass es in Italien dann nicht einfach ist, fit zu bleiben." Zunächst muss er aber offenbar in Sachen Fitness noch wichtige Schritte machen. „Wir müssen hart mit ihm trainieren", meinte Nagelsmann. Dennoch: An der Fitness lässt sich arbeiten, das ist im durchgetakteten und professionellen Fußball selten ein Problem. Also was bringt der erst 22-Jährige mit nach München?

Der FC Bayern wollte mehr Führungsstärke im Abwehrzentrum und hat diese auch bekommen. De Ligt geht vorneweg, bereits in Amsterdam war er unangefochtener Kapitän. Diese Stellung muss er in München nicht einnehmen, sondern die Defensive von hinten organisieren – das kann er. In Turin ist der Spielstil defensiver geprägt, bei Ajax lernte er aber das offensive Verteidigen. Das passt auch zum FC Bayern. Sicherlich hilfreich für die Eingewöhnung sind Ryan Gravenberch und Noussair Mazraoui. Beide kamen diese Saison aus Amsterdam und geben dem neuen Innenverteidiger einen gewissen Halt. In München liegen deshalb so große Hoffnungen auf de Ligt, weil er diese auch erfüllen kann. Peter Bosz, damals noch in Diensten von Bayer Leverkusen, sagte über de Ligt: „Der niederländische Fußball war in einer Sinnkrise, aber Mann und Frau de Ligt haben einen Sohn, und der Fußball schöpft wieder Hoffnung." Den gesamten Münchner-Fußball muss er nicht retten. Er soll vielmehr das Puzzleteil sein, das den Bayern zum ganz großen Wurf fehlte. Dabei ist de Ligt in seiner Entwicklung noch lange nicht am Ende. Der FC Bayern hat in diesem Transferfenster wohl einiges richtiggemacht.