Überfüllte Gassen, verdrängte Mieter, schmutzige Luft: Wo der Tourismus boomt, leiden oft die Einheimischen. Können aufstrebende Urlaubsorte diesem Trend widerstehen? Die Ostsee-Kleinstadt Wismar versucht’s.
Kirsten Koch ist stolz. Das neue Gebäude. Die Schrägfassade. Die ganze Architektur, die an ein Kreuzfahrtschiff erinnert und sich perfekt in die Umgebung einfügt. „Solche hochwertigen Objekte gab es hier vorher nicht", sagt die Immobilien-Verwalterin und blickt auf den Neubau, der 39 Ferienwohnungen beherbergt. Hier, am Alten Hafen von Wismar, sind ihre Gäste mittendrin: Am Quai gibt es Matjes und Backfisch, nebenan dockt das Polizeiboot. Dazwischen Möwen, Seeleute und betrunkene Männer, die zum Junggesellenabschied um die Häuser torkeln.
„Wir brauchen mehr Pep"
Wismar, eine 44.000-Einwohner-Stadt an der Ostsee, galt lange Zeit als Geheimtipp: restaurierte Gebäude, moderate Preise, nicht so überlaufen wie Rostock oder Lübeck. Dazu der Status als Weltkulturerbe, den die Hansestadt seit 2002 innehat. Geschäftsleute wie Kirsten Koch haben dieses Potenzial erkannt. Am Alten Hafen verwaltet ihre Firma bereits den „Ohlerich-Speicher", ein ehemaliges Getreide-Silo, das aufwendig umgebaut wurde. „Wir brauchen mehr Pep", sagt die Immobilien-Verwalterin. Viele Ferienwohnungen in der Altstadt seien in die Jahre gekommen – nichts für ihre gut betuchte Klientel.
In der Stadt denken viele wie Koch. Es geht aufwärts im Tourismus, aber man muss die Gäste auch bei Laune halten. Nur: um welchen Preis? Klassische Touristenorte wie Venedig oder Dubrovnik kennen das Dilemma: Urlauber bringen Geld und Renommee, führen aber auch zu Lärm, Müll und verschmutzten Gewässern. Obendrein werden Einheimische verdrängt, weil Eigentümer mit Ferienappartements deutlich mehr verdienen als mit Mietwohnungen. Wie findet man da die richtige Balance? Kann eine Stadt, die an der Schwelle zum Boom steht, die verschiedenen Interessen vereinen, ohne die Fehler anderer Touristenorte zu wiederholen?
In Wismar will man es zumindest versuchen. Geht man nach den reinen Zahlen, hat die Stadt vieles richtig gemacht: Kamen 1995 noch 65.000 Übernachtungsgäste, waren es 2019 eine halbe Million. Zusätzlich besuchten zuletzt 2,5 Millionen Tagesgäste pro Jahr die Stadt. Zusammengerechnet geben sie rund 120 Millionen Euro in Boutiquen, Restaurants und Hotels aus. Selbst zu Corona-Zeiten gab es nur moderate Einbrüche: Wer nicht in die Karibik fliegen kann, fährt eben an die Ostsee.
Doch die Verantwortlichen wissen, dass die Begeisterung schnell umschlagen kann. „Tourist, go home" ist nicht nur ein beliebter Slogan in Barcelona oder Lissabon, sondern auch in kleineren Orten, die unter zu viel Tourismus leiden. Damit es in Wismar nicht so weit kommt, sollen die neu gebauten Ferienwohnungen den Mietmarkt nicht beeinflussen. Beispiel Alter Hafen: Hier wird niemand verdrängt, denn in den umgebauten Getreidespeichern wären Mietwohnungen gar nicht erlaubt. Zu nah liegen sie am Industriehafen; das Verladen von Holzpellets, Stahlteilen und Streusalz würde für Dauerbewohner eine zu große Lärmbelästigung darstellen. Die Urlauber hingegen mögen das quirlige Treiben.
Konzept scheint aufzugehen
„In vielen Städten ballen sich die Ferienwohnungen in der Altstadt", sagt Norbert Huschner, der Tourismus-Chef von Wismar. „Wir konnten diesem Trend widerstehen, indem wir uns auf den Hafen konzentrieren." Für den Umgang mit dem Tourismus benutzt Huschner gern ein schwedisches Wort: lagom, genau richtig. Und tatsächlich: Auf der Buchungsplattform „Airbnb" finden sich aktuell nur knapp über zehn Angebote für die historische Altstadt. In den Häusern rund um den Bahnhof hängen Zettel in den Fenstern: Zwei-Zimmer-Wohnung zu vermieten, 230 Euro pro Monat. In einem Lokal steht noch der Weihnachtsbaum vom vergangenen Jahr. Anderswo wären Objekte in solcher Lage hart umkämpft, in Wismar sind gleich mehrere auf dem Markt.
Auch die Wohnkosten steigen bislang nur moderat, wie ein Blick in den kommunalen „Mietspiegel" zeigt. Das Dokument fasst die ortsübliche Vergleichsmiete zusammen. So kostet eine 40 bis 70 Quadratmeter große, vollmodernisierte Wohnung durchschnittlich 5,54 Euro pro Quadratmeter (ohne Nebenkosten). Das ist zwar mehr als beim vorherigen Mietspiegel, aber immer noch deutlich weniger als in anderen Hansestädten.
Einerseits scheint das Tourismus-Konzept also aufzugehen. Andererseits zeigen die leeren Wohnungen, wie fragil der Boom ist: Die Werft, in der Kreuzfahrt-Riesen für alle Welt gebaut werden, kämpft seit der Pandemie ums Überleben. Die Studierenden der Hochschule – normalerweise bis zu 9.000 an der Zahl – bleiben wegen all der Einschränkungen eher zu Hause. „Allein mit Tourismus schafft man es nicht", räumt auch Norbert Huschner vom Tourismus-Amt ein. Er selbst wünscht sich noch mehr hochwertige Kulturangebote, um Wismar attraktiv zu machen, auch für die eigene Bevölkerung. Da ist sie wieder, die Frage nach der Balance.
Ein paar Kilometer außerhalb der Altstadt steht Jane Wussow-Matz hinter dem Tresen. Die 39-Jährige hat im Sommer 2019 einen Campingplatz eröffnet. An der Rezeption riecht es nach Gebäck und Glühwein. „Eine Gruppe Radfahrer brauchte Starthilfe", sagt Wussow-Matz und lacht. Sie kennt beide Seiten der Medaille: Sie lebt vom Tourismus, aber sie sagt auch: „Als Einheimischer geht man im Sommer nicht mehr in die Altstadt." Dort sei es einfach zu voll.
Wismarer Bucht ist Schutzgebiet
Auch Katharina Glücklich kennt diese Situation. In ihrem „Café Glücklich" serviert die 51-Jährige frisch gebackenen Kuchen und selbst gemachte Limonade. „Ich wollte ein Lieblingscafé für Einheimische eröffnen", sagt Glücklich, die selbst aus Hamburg zugezogen ist. Inzwischen taucht das Café in jedem Reiseführer auf und ist fast immer gut gefüllt – im Sommer stellte Glücklich sogar eine „Corona-Ampel" auf, die Rot leuchtet, wenn die maximale Besucherzahl überschritten ist. „Manchmal muss ich Leute wegschicken, was die dann natürlich nicht so toll finden", sagt die Inhaberin. Der Erfolg – Fluch und Segen zugleich.
So ist es auch mit der Kreuzfahrt-Industrie, die in Wismar weiter ausgebaut werden soll. Vor der Pandemie kamen etwa 10.000 Passagiere pro Jahr, langfristig peilt die Stadt 20 bis 30 Kreuzfahrtschiffe pro Saison an – kein Vergleich zu Dubrovnik, aber für eine Kleinstadt eben doch eine signifikante Steigerung. Gleichzeitig soll die Wismarer Bucht ausgebaut werden, um Schiffe mit einer Länge von bis zu 260 Metern beherbergen zu können. Die Bucht ist als Flora-Fauna- und Vogelschutzgebiet ausgewiesen, Konflikte sind vorprogrammiert.
„Der Naturraum ist für solche großen Schiffe nicht geeignet", sagt Corinna Cwielag, Geschäftsführerin des Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Mecklenburg-Vorpommern. Der Umweltverband sieht viele Fischbestände durch die Bauarbeiten in Gefahr. „Die Ostsee ist sowieso schon überdüngt", sagt Cwielag, „diese Rinne führt zu einer weiteren Verschlimmerung." Und dann wären da noch die Abgase der Kreuzfahrt-Riesen. „Einige Kurbäder dürften ihren Titel gar nicht mehr tragen", sagt die Umweltschützerin. „Die Luftqualität ist einfach zu schlecht." Was mit der einst boomenden Industrie nach der Corona-Pandemie passiert, sei ohnehin fraglich. „Trotzdem werden wir bisher überhaupt nicht gehört", klagt Cwielag. Die Frage nach dem richtigen Maß: Wirklich gelöst ist sie auch in Wismar nicht.