Prof. Dr. Susanne Schröter, geschäftsführende Direktorin des Instituts für Ethnologie der Goethe Universität in Frankfurt und Gründerin und Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI), spricht darüber, was den IS antreibt, über die Attraktivität des Salafismus für junge Menschen und die Dringlichkeit von Präventionsmaßnahmen.
Frau Prof. Schröter, wie kommt es, dass aus dem Islam ein so brutaler terroristischer Zweig entstehen konnte?
Eine Möglichkeit, das zu erklären, ist, bis ins 7. Jahrhundert, als der Islam entstand, zurückzugehen, zu den Kriegen, die Mohammed geführt hat. Mohammed musste aus Mekka fliehen, weil seine Religion bei den Mekkanern nicht auf Sympathie gestoßen ist. In Medina wurde er dann als Religionsstifter und auch als politischer Führer anerkannt. Auf diese Medinenische Zeit lassen sich Koranverse und prophetische Überlieferungen datieren, in denen Krieg, und zwar als Dschihad, das heißt, "von Gott legitimiert" wird. Alle terroristischen Organisationen greifen darauf zurück, auch Al Qaida und der IS. Dass es schon immer eine Situation gab, in der der Dschihad gerechtfertigt und sogar Pflicht war. Pflicht dann, wenn der Islam angegriffen wird oder einfach dafür, dass der Islam ausgebreitet werden muss.
Eine andere Erklärung liegt im 19. Jahrhundert, als das Osmanische Reich zusammenbrach. Dadurch begann der europäische Kolonialismus mit Ausdehnungen in den Orient hinein, nach Westasien und Nordafrika. Die Europäer haben sozusagen in der islamischen Welt die Führung übernommen. Das hat eine riesige Krise ausgelöst. Auf der einen Seite entwickelten sich ganz normale antikoloniale Bewegungen. Auf der anderen Seite gab es die Gelehrten, die fragten, wie das passieren konnte. Gott habe ihnen doch versprochen, dass sich der Islam über die ganze Welt ausbreite. Diese Gelehrten sagten: Das ist die Strafe Gottes, weil die Muslime vom wahren Glauben abgefallen ist. Der Weg zurück sei der Weg zu den Ursprüngen des Islam, zum Koran in der wortwörtlichen Auslegung.
Es bildeten sich verschiedene Strömungen, unter anderem entstanden die Salafisten.
Und wie ist der IS entstanden?
Ganz maßgeblich durch den Irak-Krieg, der von den USA und Großbritannien angezettelt worden war. Mit dem vorgeschobenen Grund, der Irak würde Giftgas produzieren. Später hat man das zurückgenommen. Es ging letztendlich um einen Regierungswechsel, die USA wollten Saddam Hussein stürzen, weil er ihre politischen Pläne durchkreuzt hatte. Das Ganze hatte sehr weitreichende Konsequenzen, weil es keine Nachkriegsordnung gab. Der Irak ist geteilt in drei große Volks- und Religionsgruppen: die Schiiten, die sich stark am Iran orientieren, die Sunniten, und die Kurden. Mit dem Sturz Husseins sind die Schiiten an die Macht gekommen. Die Sunniten wurden von allen Machtpositionen verdrängt. Daraus folgte ein sunnitischer Widerstand, der sich gegen die Amerikaner richtete, mit der Begründung: Ungläubige sind auf unserem Boden, der Islam wurde angegriffen, wir haben unsere Autonomie verloren. Dazu kamen andere Kritikpunkte, die auch alle richtig sind, zum Beispiel, dass der Westen mit zweierlei Maß misst und nur die eigenen Toten zählt. Im Irakkrieg sind schätzungsweise 200.000 Iraker gestorben. Dieser Krieg war völkerrechtswidrig, aber dafür wurde nie jemand vor Gericht zur Verantwortung gezogen. Für einen Moslem ist das ein ganz starkes Argument, zu sagen: Dieser Westen befindet sich im Krieg gegen den Islam. Das ist die Gründungserzählung von Al Quaida und später dem IS.
Was treibt den IS heute an?
IS-Anhänger wollen letztendlich, das Gottes Wort das Höchste ist. Islamische Normen und vor allem das Islamische Recht soll überall dort implementiert werden, wo jemals islamischer Boden war. Das bedeutet eben auch Italien und Spanien.
Und warum Deutschland?
Das hat mit der Diaspora zu tun, also mit Muslimen in der nicht-muslimischen Welt. Da gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die einen sagen: Wir haben einen Vertrag mit den Nicht-Muslimen. Sie lassen uns unsere Religion leben und deshalb sind wir nicht im Krieg mit ihnen. Andere sagen: Man ist eigentlich grundsätzlich im Krieg mit den so genannten Kuffar, also den Nicht-Muslimen. Und wieder andere sagen: Der Westen ist aggressiv und bedroht die Muslime immer und überall, deshalb muss man ihn auch überall angreifen. Solange westliche Truppen in islamischen Ländern stationiert sind, so lange sind wir berechtigt, beziehungsweise verpflichtet, den Westen angreifen, damit er sich zurückzieht.
Also, wenn jetzt alle Truppen abgezogen werden würden, würde der Terror aufhören?
Nein. Denn es gibt noch eine zweite Argumentation. Der Islam soll sich über die ganze Welt ausbreiten und alle Gebiete, in denen Muslime wohnen, sollen zum Groß-Islamischen Staat gehören. Der Hardliner Abu Musab al-Suri hatte schon 2006 ein großes Manifest zum Widerstand der Muslime im Westen geschrieben, in dem er schon festgelegt hat, was heute passiert: Jeder Moslem soll im Westen Terrorakte begehen, um den Westen zu schwächen. Das kann ein Messer sein, ein Auto, irgendein Alltagsgegenstand. Es ist auch egal, wen man umbringt, es ist immer richtig. Das Ziel ist, einen Aufstand der Muslime im Westen zu provozieren. Damit Muslime schlussendlich die Macht übernehmen.
Das entbehrt ja jeder Realität, der Westen wird niemals so einbrechen.
Diese Leute sind fanatisch, das sehen die nicht. Eines ihrer Argumente ist: Wir werden immer stärker, wir werden immer mehr. Wir kriegen mehr Kinder, irgendwann sind wir in der Lage, das zu tun. Letztendlich ist es das Fatale, dass gerade dieses Argument von Rechtspopulisten aufgegriffen wird. Beide Seiten bestätigen sich gegenseitig.
Dann können wir wohl nicht damit rechnen, dass der Terror zurückgeht …
Im Moment nicht. Der Salafismus ist eine Jugendbewegung geworden, gerade in westlichen Ländern. Das Perfide ist, dass sie alles haben, was zu einer Jugendbewegung gehört. Fansymbole, Musik, Filme, alles, was Jugendliche brauchen, um Kultur aufzubauen. Es gilt als wahnsinnig cool, so einer Bewegung anzugehören, weil sie natürlich auch das ultimative Protest- und Oppositionspotential hat und sichtbar und schockierend ist. Nach den neuesten Daten des Verfassungsschutzes hat es einen enormen Zulauf im letzten Jahr gegeben.
Spielt bei den jungen Menschen, die sich rekrutieren lassen, der Glauben denn eine große Rolle?
Gott spielt da schon eine große Rolle. Es wäre falsch zu sagen, dass diese jungen Leute nicht religiös sind. Es gibt auch Abenteurer, aber das ist es nicht alleine. Auch das sozio-ökonomische Argument greift zu kurz. Viele Salafisten kommen aus marginalisierten Milieus und etliche davon haben eine kriminelle Karriere durchlaufen, aber es gibt aber auch Studenten und Leute aus gutem Hause. Salafismus ist keine Underdog-Bewegung. Sie spricht junge Leute an, die glauben, dass hier etwas fundamental ungerecht ist. Man fühlt sich als Opfer. Man könne als Moslem nicht in Deutschland leben, heißt es. Dazu kommt die außenpolitische Dimension, dass Bilder von toten und sterbenden Muslimen in den ausländischen Krisengebieten in Echtzeit hier auf die Handys geschickt werden. Dann heißt es: Schaut her, Muslime werden überall in der Welt abgeschlachtet, und es ist der Westen, der Krieg gegen uns führt. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen.
Was müsste getan werden?
Auf der einen Seite müsste eine grundständige Prävention verankert werden – vor allem an Schulen. Es gibt Präventionsprogramme vom Bund, den Ländern und Kommunen, aber es gibt keine klare Linie. Jeder macht, was er möchte, und es ist ein riesiger Markt entstanden, auf dem sich selbst ernannte Präventionsdienstleister tummeln. Wir müssten dringend eine Evaluierung der laufenden Programme vornehmen und schauen, was sich bewährt hat und was nicht. Dann müssten die guten Beispiele in „Serie gehen“ und bestenfalls curricular verankert werden. Demokratieerziehung ist ein zweites wichtiges Standbein. Die Jugend muss gegen jede Art von Extremismus immunisiert werden. Man muss Jugendlichen vermitteln, dass sie ihre Ziele mit friedlichen Mitteln durchsetzen können, dass genau das Demokratie bedeutet. Dieses Wissen ist verloren gegangen, viele Jugendliche wissen das nicht. Wir müssen dafür sorgen, dass Jugendliche die Möglichkeit haben, an unserer Gesellschaft zu partizipieren. Diese Aufgabe sollten wir ernst nehmen. Jugendliche müssen ihren Platz in der Gesellschaft finden und nicht "zwar als Moslems", sondern als Menschen. Wie andere Menschen auch.
Auf der anderen Seite fehlt es bei vielen Akteuren in unserer Gesellschaft, sowohl politisch als auch kirchlich, an einer richtig klaren Haltung dem Extremismus gegenüber. Man muss sich über Werte verständigen, die in einer Einwanderungsgesellschaft gelten, das heißt, klar gegen unbegründete Ausgrenzung positionieren. Wir müssen schon klar machen, dass Akzeptanz auch bedeutet, dass man aufgrund der Religion nicht einfach einen Teil der Bevölkerung verurteilen und ihnen das wahre Menschsein aberkennen kann.
Prävention ist die eine Seite, aber wie gehen wir mit dem bestehenden Terrorismus um?
Prävention ist wichtig, damit kein Nachschub für den Terrorismus rekrutiert wird. Ich wäre schon froh, wenn wir das alles auf dem Jetzt-Zustand einfrieren könnten. Leider gibt es viel Angst, die gute Maßnahmen verhindert. Die Schulleiter möchten beispielsweise nichts nach außen dringen lassen, weil sie Angst haben, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr anmelden. Die verzichten dann auf Maßnahmen, weil sie Angst um ihren Ruf haben. Und viele Lehrer sind überfordert, weil sie mit Dingen konfrontiert werden, von denen sie keine Ahnung haben.
Passt denn der Islam überhaupt zur westlichen Welt?
Er passt, wenn er sich in einer demokratischen, liberalen Form aufstellt. Er passt nicht, wenn er religiöser Recht vor geltendes Recht setzt. Die Frage ist, welcher Islam gehört zu Deutschland. Eine totalitäre Variante kann nicht zu Deutschland gehören. Ein spiritueller Islam, bei dem es darum geht, die persönliche Beziehung zu Gott zu finden, bei dem man karitativ tätig sein möchte, der passt selbstverständlich. Ein solcher Islam kann für alle Felder der Gesellschaft bereichernd wirken. Aber wenn versucht wird, Normen durchzusetzen, die gegen unsere Normen gerichtet sind, dann wird es zwangsläufig Konflikte geben.