Alexander Pitschuschkin gilt als der größte Serienmörder der russischen Geschichte. Sein selbst auferlegter Auftrag: so viele Menschen zu töten, wie ein Schachbrett Felder hat. Doch so weit kam es nicht. Vor genau zehn Jahren wurde er verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Sein Motiv, warum 49 Menschen sterben mussten, bleibt unklar.
Knapp 2.600 Kilometer trennen Charp am Ostrand des Polaren Ural, nördlich des Polarkreises, von der Hauptstadt Moskau. Im Winter fallen die Temperaturen in der Siedlung unter minus 55 Grad Celsius. Hier, inmitten der sibirischen Eiswüste, erstreckt sich eines der insgesamt fünf Hochsicherheits-Straflager für lebenslänglich Verurteilte – „IK-18", besser bekannt als die „Polareule". Zufällige Insassen gibt es hier nicht. Die Verurteilten sind Bombenleger, Massenmörder und Terroristen. Zwischen ihnen ist auch Alexander Pitschuschkin, der als größter Serienmörder der russischen Geschichte gilt.
Fünf lange Jahre, zwischen 2001 und 2006, wütete der alkoholkranke Tischler im größten Park der russischen Hauptstadt, dem Bizewski-Park, und tötete nachweislich 49 Menschen, er selbst spricht von 61 Opfern. Drei konnten ihm entkommen. Die meisten seiner Opfer erschlug Pitschuschkin mit einem Hammer und steckte anschließend eine Wodka-Flasche oder einen Ast in die offene Kopfwunde.
In Interviews zeigt sich der Serienmörder immer wieder eiskalt. Reue empfindet der Russe nicht, auch kein Mitleid mit den Opfern. Vielmehr sieht er seine Taten als „ehrenvolle, reine Verbrechen". „Ich tötete die Menschen nicht, um sie auszurauben oder zu misshandeln", erzählt der Schachbrettmörder stolz. „Ich tötete sie, um sie zu töten. Ihnen das Leben zu nehmen." Darin sieht der Verurteilte auch die Besonderheit seiner Taten.

Bevor er sich seine Opfer aussuchte – am Anfang waren es meistens Obdachlose oder Trinker – freundete sich Pitschuschkin mit ihnen an. Erfuhr ihre Lebensgeschichte, um sie anschließend mit einem Hammerschlag auszulöschen. „Je besser ich die Opfer kannte, desto mehr gelang es mir, ihre ganze Existenz zu vernichten", beschreibt Pitschuschkin seine Vorgehensweise. Für jeden Mord deckte der Serienkiller ein Schachbrett-Feld ab. Das Makabere: Auf einigen Feldern fanden sich Schraubverschlüsse von Flaschen, die der Irre mit seinen Opfern kurz vor der Tat geleert hatte.
Eine Unachtsamkeit wurde Pitschuschkin letztlich zum Verhängnis. Als er sich mit Marina, seinem letzten Opfer, verabredete, nannte er seinen richtigen Namen. Bevor sich die alleinerziehende Mutter zum Date mit dem Unbekannten in den Park aufmachte, hinterließ sie ihrem Sohn einen handgeschriebenen Zettel mit den Kontaktdaten des Mannes. Als sie auch am nächsten Tag nicht zu Hause erschien, kontaktierte der Junge die Polizei. Damit bekam die Polizei nach zwei Fehlversuchen endlich den „Irren von Bizewski" zu fassen. Warum der unscheinbare Tischler zum Serienkiller mutiert ist, bleibt bis heute unklar. Die Gerichtspsychologen sehen den Grundstein dafür in seiner Kindheit.
Großvater ist die einzige echte Bezugsperson
Geboren wird Alexander Pitschuschkin am 9. April 1974 in der Stadt Mytischtschi, knapp 23 Kilometer von Moskau entfernt. Das Eheglück der Eltern hält nicht lange an, der Vater verlässt die Familie als Alexander neun Monate alt ist. Mutter Natalja muss das Kind alleine versorgen. Sie arbeitet bis in die Nacht, die Erziehung des Jungen übernimmt sein Großvater väterlicherseits. Dafür zieht der Rentner und ehemalige Soldat sogar in die kleine Wohnung der Schwiegertochter.
Pitschuschkin ist ein sehr ruhiges, fast schon menschenscheues Kind. Im Kindergarten verbringt der Junge die Zeit fernab seiner Altersgenossen. Dafür turnt er mit Vorliebe auf der großen Metallschaukel im Innenhof des maroden Betonblockhauses, in dem die Familie eine Wohnung anmietet. Mit vier Jahren rutscht Alexander von der Schaukel und prallt mit dem Hinterkopf gegen den Metallsitz. Mit einem Schädel-Hirn-Trauma wird er ins Krankenhaus eingeliefert. Erst nach der Entlassung stellt seine Mutter fest, dass ihr Sohn beim Sprechen die beiden Laute „S" und „Sch" verwechselt.


Mit der Einschulung taucht der Sprachfehler auch in der Rechtschreibung auf. Um dem Jungen zu helfen, schickt sie ihren Sohn zunächst auf ein logopädisches Internat. Doch er kommt nur schwer damit zurecht, zieht sich immer weiter zurück und wirkt meist geistesabwesend. Seine Flucht aus der Realität ist das Schachspiel. Das passende Spielbrett schenkt ihm sein Großvater, der einzige männliche Vertraute den Pitschuschkin hat.
Seine Mutter beginnt irgendwann eine neue Beziehung und schenkt einer Tochter das Leben. Alexander hat zwar keine Probleme mit der kleinen Stiefschwester, spürt aber auch keine besonders enge Verbindung. Immer häufiger verschwindet er stundenlang im Abstellraum der kleinen Wohnung, hört Radio und treibt parallel Kraftsport. Dafür baut ihm der Großvater eine Klimmzugstange in den Türrahmen ein. Er motiviert seinen Enkel, spricht mit ihm über das Leben und hört ihm zu.
Zum Bruch zwischen den beiden Männern kommt es, als Alexander 14 Jahre alt wird. Sein Großvater lernt eine neue Frau kennen und zieht aus der Wohnung der Schwiegertochter aus. Alexander wertet dieses frische Liebesglück als Verrat und bricht den Kontakt zu seiner einzigen echten Bezugsperson ab. Später sehen die Gerichtspsychologen in dieser Episode den entscheidenden Hinweis für das Motiv des Schachbrettmörders. Pitschuschkin habe sich an seinem Vater und seinem Großvater rächen wollen. Daher habe er seine Opfer nach dem immer gleichen Muster ausgewählt: Nur drei von 49 Ermordeten sind Frauen, der Rest ältere Männer. Diese Hypothese wurde von Pitschuschkin bis heute allerdings nicht bestätigt.
Statt Wehrdienst in die Psychiatrie
Nach einem mittelmäßigen Schulabschluss beginnt Alexander eine Tischlerausbildung. Bei Frauen kommt der athletisch gebaute junge Mann gut an. Doch eine Freundin hat der „Sonderling", wie ihn die männlichen Azubis nennen, nicht. Der einzige „Liebesbrief", an den sich seine Mutter erinnert, stammt von einem Mann. Der Unbekannte unterschrieb den Zettel mit dem ausgeschriebenen Wort „Kuss". „Ich glaube, mein Sohn suchte die Nähe älterer Männer", berichtet die Mutter später unter Tränen bei einem der zahlreichen TV-Interviews. „Aber nicht sexueller Natur. Es war vielmehr die Nähe seines Vaters, die er so vermisst hat."

Sobald er volljährig ist, meldet sich Pitschuschkin zum Wehrdienst. Dort fällt er aber durch die Musterung und landet stattdessen in einer psychiatrischen Klinik. Als er nach Hause zurückkehrt, ist ihr Sohn nicht mehr derselbe, beteuert die Mutter anschließend. Er schüttet sich mit Alkohol zu, teilweise bis zur Bewusstlosigkeit. Manchmal schafft er es nicht einmal mehr auf die Treppen und liegt vor dem Hauseingang – mitten auf der Zufahrtsstraße zum Mehrfamilienhaus mit mehr als 100 Wohnparteien. Wenn seine Mutter spätabends von der Arbeit heimkehrt, zerrt sie den besoffenen Sohn Stufe für Stufe bis vor die Wohnungstür. Einen Job als Tischler findet der mittlerweile zum Alkoholiker gewordene Pitschuschkin nicht. Stattdessen arbeitet er bis zu seiner Verhaftung im Juni 2006 in einem Supermarkt. Zunächst als Lagerist, anschließend wird er zum Hilfsarbeiter degradiert.
Seinen ersten Mord begeht „Der Irre vom Bitza-Park", wie ihn die Medien später taufen, 1992. Zu diesem Zeitpunkt ist er 18 Jahre alt. Sein Opfer ist Michail Odiitschuk, ein Kommilitone und der einzige männliche Freund, den Pitschuschkin nach dem Bruch mit seinem Großvater in sein Leben gelassen hat. Es ist kein Zufall, die beiden Männer verbindet ein dunkles Geheimnis. So wie Pitschuschkin hat auch Odiitschuk heimliche Mord- und Gewaltfantasien. Stundenlang wandern die Gleichgesinnten durch den verwilderten Bizewski-Park im Herzen von Moskau. Mit rund 2.200 Hektar Fläche gilt der Park als das zweitgrößte Stadtwaldgebiet der russischen Hauptstadt. Sie reden über mögliche Mordwaffen, potenzielle Tatorte und die richtige Auswahl der Opfer. Bald reichen die Gespräche nicht mehr aus. Pitschuschkin will handeln, doch Odiitschuk bekommt kalte Füße und winkt die mörderischen Pläne als „verrückte Ideen" ab. Dennoch trifft er sich noch am gleichen Abend mit Pitschuschkin und bringt sogar ein Seil mit, um welches ihn der gewaltbereite Kommilitone ausdrücklich gebeten hat.
Er wollte anderen Serienmörder übertreffen
Nach einem gemeinsamen Besäufnis greift der Schachbrettmörder zum Seil, erwürgt Odiitschuk und entsorgt den leblosen Körper in einer Abflussrinne. Durch die starke Kanalströmung treibt die Leiche innerhalb kürzester Zeit mehrere Kilometer weit vom Tatort weg. „Der erste Mord ist wie die erste Liebe", kommentiert Pitschuschkin später in einem seiner zahlreichen Verhöre den Tatvorgang. „Es bleibt unvergesslich."
Danach bleibt Pitschuschkin zunächst für einige Jahre ruhig. Eine Radionachricht über die Verurteilung von Serienmörder Andrei Tschikatilo, er hat 53 Morde auf dem Gewissen, lässt seine Mordlust wieder aufleben. „Ich wollte es besser machen", gesteht Pitschuschkin später, „viel besser."