Wenn Väterchen Frost die Küste Estlands fest im Griff hat, ist in der Provinz Lääne genau die richtige Zeit für Winterschwimmer, Tretschlittensportler und mutige Autofahrer.
An diesem frostigen Wintermorgen fährt Konstantin mit seinem Auto aufs Meer – ohne Fähre. Die Reifen rollen knirschend übers Eis, das in der Sonne funkelt wie Kristall. Mitten auf der zugefrorenen Meerenge bremst er, steigt aus und bohrt ein Loch. „Das Eis muss 26 Zentimeter dick sein, um die Autos zu tragen", sagt der blonde Este, der im Sommer normale Straßen baut und im Winter Eisstraßen. Jeden Tag muss er neu entscheiden, ob die zwölf Kilometer lange Eisstraße für den Autoverkehr von Rohuküla rüber zur Insel Vormsi freigegeben werden kann. Naht der Tag der Eröffnung, hat er einen Trupp Männer in Sicherheitswesten dabei. Etwa alle hundert Meter pflanzen sie ein Wacholderbäumchen für die Wegmarkierung.
Über das zugefrorene Meer mit dem Auto
In Estland gibt es sieben mögliche Eisstraßen mit knapp vier bis 27 Kilometer Länge. Vier davon gehen vom Festland der Provinz Lääne zu vorgelagerten Inseln oder Halbinseln. In besonders kalten Wintern sind alle Strecken wochen- oder monatelang befahrbar. In anderen Jahren werden nur eine oder zwei davon für wenige Tage freigegeben. „Wir machen uns trotzdem die Mühe mit Aufbau und Abbau, damit wir nicht verlernen, wie es geht, wenn lange Phasen wärmerer Winter kommen", sagt Konstantin. Am häufigsten friert die Meerenge zwischen Haapsalu und der Halbinsel Noarootsi zu. Die Einheimischen freuen sich dann über eine zehn Mal kürzere Wegstrecke zum Festland.
Aber die Eisstraße lockt auch viele Spaßfahrer aus ganz Estland an. Am Wochenende bilden sich kleine Staus vor dem Kontrollhäuschen an der Uferpromenade. Auf dem Meer gilt die Straßenverkehrsordnung mit einigen Abweichungen, die jedem Fahrer erklärt werden: Nicht stoppen! 250 Meter Abstand halten! Nicht zwischen 25 und 40 Stundenkilometer fahren! Diese Geschwindigkeit bringt das Eis so in Schwingung, dass es aufbrechen kann. Und bitte nicht anschnallen! Falls man einbricht, würde man nicht schnell genug herauskommen. Doch das sei auf der offiziellen Strecke noch nie passiert.
Auch Kertu fährt im Winter gern auf der Eisstraße hin und her, weil es so etwas Besonderes ist. Aber noch lieber schwimmt die schlanke Estin im Eiswasser. Einmal in der Woche trifft sie sich mit zehn bis 20 Frauen am Yachthafen von Haapsalu. Erst harken sie Eisstücke aus dem Wasserloch, dann ziehen sie sich um und klettern in Badeanzug und Pudelmütze über eine Leiter ins null Grad kalte Wasser. „Ich habe zehn Jahre lang davon geträumt, bis ich den Mut hatte, es auszuprobieren und mich ein Facebook-Freund das erste Mal mitgenommen hat", erzählt Kertu. Inzwischen hält sie von allen am längsten aus: 1,5 Minuten. „Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Wenn ich Kopfschmerzen habe oder total ausgepowert bin, wirkt das Eisbad Wunder, danach bin ich wieder total fit", schwärmt sie. Gern nimmt sie auch ihre B&B-Gäste mit zum Schwimmen.
Die Urlauber kommen im Winter aber auch nach Haapsalu um wärmende Schlammpackungen in einem der Spa-Hotels zu genießen. Haapsalu hat eine lange Tradition in solchen Anwendungen, denn es war der Este Dr. Carl Abraham Hunnius, der Anfang des 19. Jahrhunderts als erster die heilende Wirkung von Meeresschlamm wissenschaftlich untersuchte und dessen Einsatz förderte. Nicht weit von der Eisstraße entfernt ist ihm ein Denkmal gewidmet. Von dort spaziert man am Kurhaus mit kunstvoll geschnitzten Dachgiebeln vorbei. Die erste Kuranstalt entstand im Jahr 1825. Damals entwickelte sich Haapsalu zu einem mondänen Ferienort für russische Zarenfamilien.
In der Mitte der Altstadt thront eine imposante Burgruine aus dem 13. Jahrhundert. Einer Legende nach soll in bestimmten Vollmondnächten das Bild einer weißen Frau am Fenster zu sehen sein. Sie soll sich als Chorknabe verkleidet haben, um ihrem Geliebten – einem Bischof – nahe zu sein. Als die Verkleidung aufflog, wurde sie zur Strafe eingemauert. Jeden Sommer wird diese Geschichte als Theaterstück im Burghof aufgeführt.
Was die Kultur angeht wie auch die Liebe zur Natur, die Modernität und den digitalen Fortschritt, hat Estland viel mehr von Finnland als von seinem Nachbarn Russland. Seit dem Abzug der russischen Besetzer Anfang der 90er-Jahre hat das Land sich praktisch neu erfunden. Hippe Wohnzimmercafés, hervorragende Restaurants mit regionalen Spezialitäten und in jedem Winkel eine gute Internetverbindung.
Dabei gelingt den Einheimischen der Spagat zwischen Tradition und Moderne. So bekommt das traditionelle Haapsalu-Schultertuch – gestrickt aus feinstem Wollfaden – immer wieder neue, moderne Muster. Nahezu jede Braut bestellt eines für ihre Hochzeit – oder strickt es selbst.
Auch der Tretschlitten ist Tradition. Früher diente er als praktisches Fortbewegungsmittel. Man brachte damit im Winter die Kinder zur Schule oder transportierte die Einkäufe nach Hause. Heute gleiten Freizeitsportler damit übers Eis. An der Uferpromenade vermietet der sportliche Arno Tretschlitten. „Ganz einfach zu fahren: Sechs mal rechts, sechs mal links abstoßen, zum Lenken den Haltegriff fest drücken, Bremsen mit dem Fuß", erklärt er. Dann verteilt er Eisnägel zur Selbstrettung, falls man doch mal einbricht. Und los geht’s!
1.520 Inseln liegen für der Küste
Die Kufen gleiten schabend übers Eis vorbei an Schilfinseln, die im Sonnenuntergang satt orange leuchten. Vor Estlands Küste liegen 1.520 Inseln, nur 19 sind bewohnt. Arno schwingt sein Knie hoch bis zur Lenkstange und streckt es nach hinten wie ein Eiskunstläufer. „Wenn man erst mal den Rhythmus gefunden hat, kann das richtig meditativ sein", schwärmt er „einmal war ich dabei so in mich versunken, dass ich den Weg verloren und Vormsi mit Noarootsi verwechselt habe." Zum Glück schaffte er es vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Denn bei guten Eisverhältnissen kann er 30 bis 40 Stundenkilometer schnell fahren.
Zurück am Festland verabschiedet sich der Tag langsam, malt ein zartrosa-bläuliches Licht in die Landschaft und stempelt schon mal den Mond in den Himmel. Vom Aussichtsturm an der Uferpromenade hat man einen guten Blick auf die Eisstraße. Dort rollt nun ein Wagen mit Scheinwerferlicht. Womöglich ist es der letzte in diesem Jahr. Nachts ist die Nutzung der Straße verboten. Und höchstens Petrus weiß, ob der eisige Weg übers Meer am nächsten Tag wieder geöffnet werden kann.