Auf deutschen Friedhöfen stellt sich immer häufiger das Problem, dass Leichen nicht mehr oder nicht vollständig genug verwesen. Die Ursachen sind vielfältig, wobei mangelnde Sauerstoffzufuhr bedingt durch feuchte und schwere Böden die zentrale Rolle spielt.
Auf den deutschen Friedhöfen wird den Verstorbenen zwischen 15 und 35 Jahren Zeit gegeben, um der biblischen Aufforderung „Denn Erde bist du, und zur Erde sollst du zurück" Folge zu leisten. Und obwohl der Zersetzungsprozess umgehend nach dem Tod einsetzt, erleben hierzulande Friedhofsmitarbeiter immer öfter unliebsame Überraschungen nach Ablauf der Ruhefrist. Beim Ausheben neuer Gräber stoßen sie häufig nicht mehr nur auf verfaultes Sargholz und menschliche Knochen, sondern auf nur teilweise oder scheinbar ganz unverweste Leichen, obwohl diese in der Regel rund ein Vierteljahrhundert unter der Erde lagen. Es handelt sich um „Wachsleichen", auch schon mal „Fettwachsleichen" genannt, die ungewollt mumifiziert wurden und bei denen daher teilweise sogar noch die Gesichtszüge erkennbar sind.
Das Problem der nicht mehr (vollständig) verwesenden Toten ist nicht neu, wurde in den letzten 20 Jahren immer mal wieder in den Medien thematisiert. 2012 war eine Studie der Deutschen Bundesstiftung Umwelt zu dem Ergebnis gekommen, das auf jedem vierten der etwa 32.000 traditionellen deutschen Friedhöfe die Leichen nicht so verwesen, wie sie sollen.
Ende 2017 wurde eine Fachtagung zum Thema Wachsleichen an der Universität Bonn abgehalten, damit Experten erstmals in großem Rahmen über Lösungen für betroffene Friedhöfe sowie über ethische, theologische, bodenkundliche und rechtliche Aspekte des Phänomens diskutieren konnten. Die Lage bezüglich der Wachsleichen ist ernst. „Es gibt kaum noch einen Friedhof in Deutschland, der nicht zumindest mit Teilflächen davon betroffen ist", erklärte vor Kurzem der Bonner Biorechtsexperte Tade Spranger. Michael Albrecht vom Verband der Friedhofsverwalter Deutschlands wagte dem Bonner Jura-Professor zu widersprechen, allerdings mit einem ziemlich schwachen Argument: „Es gibt dafür keine Statistiken."
Was letztlich kein Wunder ist, weil das Thema Wachsleichen in den meisten Kommunen ein regelrechtes Tabu ist. Wie soll man da an Zahlenmaterial kommen, wenn niemand darüber Auskunft erteilen möchte. „Man will in diesem ohnehin gefühlsbeladenen Bereich nicht auch noch die Hinterbliebenen schocken und mit solchen Botschaften konfrontieren", sagt der frühere Bestatter und heutige Publizist Peter Wilhelm. Der Frankfurter Kommunikationsberater Willi Brandt gab den Verantwortlichen deutscher Gemeinde hingegen den dringenden Rat, ganz offen mit der Problematik umzugehen: „Denn das schlimmste Szenario wäre für Angehörige, zufällig in sozialen Medien ein Handyfoto von der Oma als Wachsleiche zu sehen", betont Brandt.
Auch wenn der Name anderes vermuten lässt, so enthalten Wachsleichen keinerlei Wachs. Sie stellen eine Form von natürlicher Mumifizierung dar, bei der der Verwesungsprozess durch das Fehlen von nötigem Sauerstoff abgebrochen wurde. Schuld daran sind vor allem zu feuchte und lehmig-tonhaltige Böden. „Bei entsprechenden Bodenverhältnissen kann das überall vorkommen", erklärt der Frankfurter Leiter der Abteilung Friedhofsangelegenheiten Thomas Bäder. Zusätzlich werden viele Gräber übermäßig gegossen, wodurch sich viel Wasser an der Oberfläche anstauen kann und die Gräber fast wie eine Zisterne funktionieren.
Auch vom Verwesen ermüdete Böden können die Sauerstoffzirkulation erheblich negativ beeinträchtigen. Gleiches gilt für Sargmaterial aus Kunststoff, Ton oder Metall, da wären Fichte, Eiche, Mahagoni oder Lärche bessere Lösungen. Auch Kunststoffkleidungen können den Verwesungsprozess behindern, weil Bakterien diese Fasern wesentlich schlechter zersetzen können als beispielsweise Baumwolle.
Ob auch ein hoher Antibiotika-Konsum zu Lebzeiten eine hemmende Wirkung auf die Leichenzersetzung haben kann, ist unter Wissenschaftlern umstritten.
Neuregelung der Grabestiefe halten Experten für sinnvoll
Wenn die Sauerstoffzufuhr nicht ausreicht und das bei der Verwesung entstehende Kohlendioxid mangels Luftaustausch nicht ungehindert entweichen kann, wird sich schon in den ersten Wochen nach der Beerdigung eine Wachsleiche bilden, bei der die Körperfette zu einer wachsähnlichen Schutzschicht, den „Adipociren", umgewandelt sind, die von Bakterien und Enzymen nicht gut verdaut werden können, wodurch die Verwesung ins Stocken gerät und danach nicht wieder in Gang gesetzt werden kann. „Die Hautfette des Verstorbenen wandeln sich in Leichenlipide (Leichenwachs) um, die sich im Gewebe einlagern", erläutert Peter Wilhelm. „Es entsteht eine weiße, krümelige, an Wachs erinnernde Substanz auf der Haut der Leiche, die die weitere Verwesung unter Umständen vollständig verhindert."
In deutschen Landen gehen die Friedhöfe mit dem Problem Wachsleichen höchst unterschiedlich um. Eine einheitliche rechtliche Regelung gibt es bislang nicht. Kommunen und Friedhofsmitarbeiter sind mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Manche Gemeinden lassen die Wachsleichen in aller Stille pietätvoll einäschern, andere pflegen sie heimlich auf welche Weise auch immer zu entsorgen.
Wieder andere verlängern auf eigene Kosten die Ruhezeit betroffener Gräber in der (vergeblichen) Hoffnung, dass sich doch noch die Leichen zersetzen mögen. Brancheninsider berichten unter der Hand, dass Baggerfahrer inzwischen schon mal beim Zuschaufeln frischer Gräber den Sarg bewusst beschädigen, um Mikroorganismen oder Sauerstoff den Zugang zu erleichtern und dadurch der Bildung neuer Wachsleichen vorzubeugen. Diese rabiate Methode kann natürlich keine Lösung sein. Schon eher die Vorgabe mancher Kommunen, dass Gräber nicht mehr komplett mit Bodenplatten abgedeckt werden dürfen.
„Es gibt verschiedene Sanierungsmaßnahmen", berichtet Michael Albrecht. „Aber es ist nicht immer klar, was das bringen soll." Viel Geld muss auf jeden Fall in die Hand genommen werden. Dafür kann man beispielsweise den Friedhofsboden komplett austauschen (Sand und Kies sind als Ersatz besonders gut geeignet), den Grundwasserspiegel mittels Pumpen niedrig halten, Drainagen legen oder Betongrabkammern einrichten, in denen der Sarg vor Wasser sowie Bodenkontakt geschützt und Sauerstoff in ausreichenden Mengen über Aktivkohlefilter eindringen kann.
Sinnvoll halten Experten auch eine Neuregelung der Grabestiefe. Früher hatte man wegen der Seuchengefahr die Maxime verfolgt: „Je tiefer, desto besser." Noch heute ist eine Beisetzung in bis zu zwei Metern Tiefe gebräuchlich und in manchen Friedhofssatzungen auch noch so vorgeschrieben. Wenn die Leichen flacher bestattet werden könnten, würde das laut Branchenkennern zu einer rascheren Verwesung beitragen. Auch Angehörige der Verstorbenen können dazu selbst einen Beitrag leisten, indem sie den aufgeschütteten Boden nach dem Begräbnis nicht zu festtreten, tief wurzelnde Sträucher und Stauden pflanzen, die dem Boden mehr Wasser entziehen, und sich beim Gießen der Gräber die nötige Zurückhaltung auferlegen.
Das Problem der Wachsleichen wird sich auf lange Sicht wohl von selbst lösen. „Weil die Tendenz zur Urne geht", sagt Thomas Bäder. Nach Branchenschätzungen werden bereits zwei Drittel der jährlich rund 925.000 Verstorbenen in Deutschland eingeäschert. Noch vor sechs Jahren, im Jahr 2011, hatten sich nur 55 Prozent der Betroffenen für die preiswertere Bestattungsalternative entschieden. Für die nähere Zukunft erwartet der Bundesverband Deutscher Bestatter einen weiteren Anstieg der Urnen-Beisetzungen.