Kein Dach über dem Kopf? Für immer mehr Menschen in Berlin ist das Realität. Unter ihnen obdachlose Frauen, die in Parks, Hauseingängen oder Bahnhöfen übernachten. Einer ihrer Tagestreffs, „Evas Haltestelle", steht womöglich bald selbst auf der Straße.
Christa würde man niemals ansehen, dass sie bis vor Kurzem obdachlos war. Die 73-Jährige, die aus Norddeutschland stammt und in Berlin studierte, war früher beruflich für ein großes Unternehmen im Ausland tätig. Ihre Wohnung verlor sie, „weil in dieser Zeit jemand aus der Verwandtschaft meine Miete nicht weiter zahlte", erzählt sie. „Als ich zurück nach Deutschland kam, war meine Wohnung weg." Was folgte, war der Schritt in die „verdeckte Obdachlosigkeit": Christa kam zeitweise bei ihrem Bruder in einer norddeutschen Kleinstadt unter. Dort wurde sie krank, musste länger in die Klinik. Als ihre Entlassung nahte, stellte sich wieder die Frage nach dem Wohin. Eine eigene Adresse war nicht in Sicht, aber eines war Christa klar: Sie wollte wieder nach Berlin. Noch im Krankenhaus stellte eine Mitarbeiterin den Kontakt zu einer Unterkunft her. Also kratzte Christa das Geld für den Fernbus nach Berlin zusammen und landete mit ihrem Gepäck in der Unterkunft der GeBeWo in Mitte.
Eine ziemlich krasse Umstellung. Christas Anlaufpunkt war als Notübernachtung das ganze Jahr über jede Nacht geöffnet. Eine gute Sache für diejenigen, die nicht mehr wissen, wohin sonst: Frauen, die keine Wohnung mehr haben, auf der Straße leben, deren aktuelle Wohnsituation unzumutbar ist oder die aus anderen Gründen nicht wissen, wo sie nachts sicher schlafen können. Aber eben „nur" schlafen: In eine solche Unterkunft kann man frühestens gegen 19 Uhr hinein und muss sie morgens um 8 Uhr verlassen. Wieder hinaus, auf die Straße. Und dann?
Auf der Straße ab 8 Uhr morgens
„Viele Cafés mögen es nicht, dass man drei Stunden bei einer einzigen Tasse Kaffee dort sitzt", so Christas Erfahrung. Sie begab sich auf die Suche nach einem Platz jenseits von Parkbänken – und hörte von „Evas Haltestelle", einer Tagesstätte des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) im Wedding, der mit „Evas Obdach" auch ein Notquartier in Mitte betreibt. Was für eine Erleichterung! Christa fühlte sich von Anfang an gut aufgehoben: „Man isst gemeinsam, spricht miteinander und steht füreinander ein. Als ich mal im Krankenhaus lag, kamen insgesamt 13 Besucherinnen von hier. Und ich dachte vorher, dass das nur meine Kaffeeschwestern sind!" Durch Beratung vor Ort und – wie Christa es beschreibt – „mühevolle Kleinarbeit" fand sie den Weg weg von der Straße. Sie wohnt mittlerweile in einer Eineinhalb-Zimmer-Sozialwohnung. „Ist man einmal aus einer Wohnung geflogen, wird es schwierig, bei den Vermietern", erinnert sie sich. „Evas Haltestelle" hält sie weiterhin die Treue. Drei- bis viermal pro Woche ist sie da. Klar, dass es – wie überall in reinen Frauenläden – auch hier ab und zu mal „Zickenterror" gibt. „Man muss schließlich auch mal einen schwierigen Charakter aushalten können." Aber wo wäre das anders?
Eine typische obdachlose Frau gibt es nicht, erzählen Claudia Peiter, die seit 2010 „Evas Haltestelle" leitet, und Ursula Snay, die beim Sozialdienst SkF die Pressearbeit macht. Jede der Besucherinnen sei anders. Aber eines eint fast alle: Obdachlosigkeit tritt meistens zusammen mit mindestens einer weiteren Problemlage auf. Das können Konflikte mit dem Partner oder Gewalterfahrungen sein, Süchte, Krankheiten oder der Fakt, als Alleinerziehende für die Kinder sorgen zu müssen. Frauen kommen durch Trennungen tendenziell eher in Not als Männer, weil sie oftmals weniger als ihre Partner verdienen, in prekären Teilzeit- oder Minijobs arbeiten und für die Kindererziehung verantwortlich sind.
Altersarmut ist ein großes Thema
In den letzten Jahren geht die Tendenz bei „Evas Haltestelle" zu immer mehr älteren Frauen, beobachtet Claudia Peiter. Altersarmut ist ein ganz großes Thema, „bei manchen reicht die Rente in der Mitte des Monats einfach nicht mehr". Viele Frauen seien erfinderisch, sie kaufen auf Flohmärkten ein und gehen zur Berliner Tafel, um sich mit Lebensmitteln einzudecken.
Der Treffpunkt im Wedding ist bewusst offen für alle angelegt. Er bietet einen Raum zum Reden und Zuhören, wer möchte, kommt, um sich aufzuwärmen, zu essen, zu duschen oder auch Wäsche zu waschen. Die „Haltestelle" ist für ihre Besucherinnen auch Postadresse, auf Wunsch bekommen sie ein Schließfach für Wertsachen. „Nachts können wir Schlafplätze anbieten, damit man bei uns in der Kälteperiode auch übernachten kann", sagt Claudia Peiter. In beiden „Evas" zusammen, also „Evas Haltestelle" und „Evas Obdach", wo Frauen ganzjährig Unterschlupf finden, bieten die beiden Notquartiere des SkF im Bezirk im Winter zweimal zehn Schlafplätze.
Neben der ganz praktischen Lebenshilfe geht es in „Evas Haltestelle" aber vor allem darum, respektiert zu werden und seine Würde zu behalten. Die Frauen spüren, dass sie nicht allein mit ihrem Schicksal sind, es gibt Austausch, Geselligkeit, und auch die eine oder andere Freundschaft entsteht. Außerdem beraten Claudia Peiter und ihre Kolleginnen, eine Psychologin und eine Sozialarbeiterin, über die Hilfsansprüche, die die Frauen haben, zum Beispiel beim Jobcenter. Dort und auf anderen Behörden und bei Institutionen kommt es vor, dass sich die Frauen zu schnell abwimmeln lassen oder ihre Ansprüche allein nicht geltend machen können. Daher werden sie in einzelnen Fällen auch von Sozialarbeiterinnen dorthin begleitet.
Ziel: Die Würde zu behalten
Was ist bei obdachlosen Frauen anders als bei ihren männlichen Kollegen? „Oft empfinden sie eine große Scham dabei, von ihrem Scheitern zu berichten", so Claudia Peiters Erfahrung. 250 bis 300 verschiedene Frauen kämen zu ihnen. „Sie haben ganz unterschiedliche Gründe, eine sehr breite Gemengelage: Neben Beziehungsproblemen und Trennungen oder dem Verlust der Arbeit sind es oftmals psychische Beeinträchtigungen." Was zuerst war, die Wohnungslosigkeit oder die psychischen Probleme, ließe sich oft schwer feststellen. Wichtig sei eigentlich Prävention. „Aber genutzt werden Angebote wie ‚Evas Haltestelle‘ oft erst dann, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist."
Ein weiterer Unterschied zu den Männern ist, dass Frauen ihre Wohnungslosigkeit oft viel länger vor der Umwelt verbergen. Sie fallen nach außen hin kaum als obdachlos auf und können länger ihr soziales Netz nutzen, um irgendwo unterzukriechen. Deshalb sind Frauen auch sehr schwer im Vorfeld zu erreichen.
Generell werden Frauenplätze in den Einrichtungen derzeit stärker nachgefragt als in den Vorjahren. In der Anfangszeit nach der Gründung von „Evas Haltestelle" im Jahr 1997 kamen zehn bis maximal20 Frauen täglich, heute sind es meistens 40 bis 50. Dass die reinen Fraueneinrichtungen wie „Evas Obdach" oder auch der Frauentreffpunkt „Sophie" der Koepjohann’schen Stiftung in Mitte einen großen Zulauf haben, liegt laut Claudia Peiter daran, dass Frauen nur sehr ungern in gemischtgeschlechtlichen Notunterkünften übernachten. Viele von ihnen haben körperliche oder seelische Gewalt erfahren.
Die „Haltestelle" sucht einen Halt
Aktuell schwärmen die obdachlosen Frauen quasi in eigener Sache für „Evas Haltestelle" aus und fahnden im Kiez nach leerstehenden Ladenlokalen. Denn ihr Domizil ist bedroht. „Es kann wirklich sein, dass wohnungslose Frauen demnächst nochmals wohnungslos werden", bringt es Claudia Peiter auf den Punkt, auch wenn inzwischen sogar zwei Berliner Senatorinnen alarmiert sind. 20 Jahre war die „Haltestelle" fester Anlaufpunkt, nun kündigte der Vermieter dem sozialen Projekt zum 1. Juni 2018 aufgrund einer anstehenden Sanierung. Die „Haltestelle" sucht also selbst nach einem neuen Halt. Doch geeignete Räume sind knapp und die Angebote meistens viel zu teuer, 38 Euro Miete pro Quadratmeter – so viel wollte ein Anbieter – sind schlicht nicht drin. Andere winken gleich ab, wenn sie erfahren, um was für einen potenziellen Mieter es sich handelt. Zu groß sind die Klischees und Vorbehalte gegenüber Obdachlosen: „Da denken viele an Einkaufswagen und Müll im Eingangsbereich, an Verwahrlosung und Drogen", erklärt Ursula Snay vom SkF. „Dabei suchen die Frauen bloß Schutz." Die Vorstellung, bis Ende Mai keine neuen Räume zu finden, wollen sie und Claudia Peiter sich gar nicht ausmalen. Container auf einer landeseigenen Brache als Zwischenlösung? Ein Bus – also eine mobile „Haltestelle" – als Provisorium? Auch solche Varianten werden angedacht, aber dort wäre es schwierig mit dem Kochen und den sanitären Einrichtungen. Und dass der SkF ein ganzes Haus kauft: Dazu müsste schon ein Wunder geschehen – das bleibt wohl ein unerschwinglicher Traum für die Frauen.