Der Einfluss politischer Bewegungen steigt, in Europa und weltweit. Das hat schon die Tea Party in den USA bewiesen. Ihre Bedeutung belebt die Debatte. Für die Forschung hat der Erfolg solcher Gruppierungen mehrere Gründe, die auch vom herrschenden politischen System abhängig sind.
Politische Bewegungen sind „in“. Sie gewinnen in repräsentativen Demokratien öffentliche Unterstützung und ihr Einfluss auf die Regierungspolitik wächst. Ein prominentes Beispiel ist die amerikanische Tea-Party-Bewegung, die eine wesentliche Rolle bei den Entscheidungen der republikanischen Kongressmehrheit spielt. Aber nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa sind politische Bewegungen auf dem Vormarsch. Bei den letzten Wahlen in Frankreich und Italien erhielten „En Marche“ und die „Fünf-Sterne-Bewegung“ die meisten Stimmen. Die Wahlsiege von Donald Trump und Emmanuel Macron zeigen, dass charismatische Persönlichkeiten in direktdemokratischen Präsidialsystemen politischen Bewegungen ermöglichen, schnell an die Macht zu kommen. Im Vergleich dazu müssen diese in parlamentarischen Systemen einen längeren Weg zur Machtübernahme über Partei- und Koalitionsbildung beschreiten. Ein weiteres Merkmal von politischen Bewegungen ist, dass die meisten antizentralistisch sind. In Europa drückt sich das in einer europaskeptischen Haltung gegenüber Brüssel aus, die bereits zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union beigetragen hat.
Näher an den Interessen der Wähler
Aber was begründet den (neuerlichen) Erfolg politischer Bewegungen? Trotz ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit weisen politische Bewegungen viele Gemeinsamkeiten auf. Fast unisono wenden sie sich gegen das politische Establishment, insbesondere gegen das etablierte Führungspersonal von Parteien. Der Vorwurf lautet, dass diese primär an Ämtern in den zentralisierenden Schaltstellen der Politik interessiert sind und deshalb die „wahren“ Ziele der Gesellschaft (oder des Landes) – eine Art gesellschaftliches Gemeinwohl – nicht mehr repräsentieren. Die Kurzformel lautet: Je länger dieses Establishment im Amt ist, desto weniger wird das Gemeinwohl repräsentiert. Bürokratischer Zentralismus, übertriebener Elektoralismus, einseitiger Lobbyismus und eine verzerrende Mediendemokratie gelten als Hauptursachen, warum das Gemeinwohl missachtet wird. Diese Defizite werden sowohl von populistischen als auch sozialen Bewegungen hervorgehoben. Für populistische Bewegungen geht das Gemeinwohl aus dem Volkswillen hervor, während für soziale Bewegungen gerade dieser Mehrheitswille nicht ausreichend Rechnung für die Herausforderungen einer Gesellschaft oder eines Landes trägt. Populistische Bewegungen fordern daher mehr direkte Demokratie zur Durchsetzung von eher kurzfristigen Wählerinteressen, soziale Bewegungen treten dagegen für mehr Expertise und Verantwortungsbewusstsein gegenüber den langfristigen Zielen einer Gesellschaft oder eines Landes ein. Aber wodurch unterscheiden sich politische Bewegungen von Parteien?
In repräsentativen Demokratien kommt Parteien in der politischen Willensbildung mit der Aufbereitung der Wählerinteressen, der Auswahl von Kandidaten und der Organisation eines pluralistischen Alternativenwettbewerbs eine zentrale Aufgabe zu. Populistische und soziale Bewegungen sehen sich als Alternative zu Parteien, deren Kritik an Parteien auf lange (Verfassungs)Traditionen zurückgeht. Auf der einen Seite stehen Parteien im Verdacht, sich zu sehr von den Wählerinteressen zu entfernen und als Regierungsparteien langfristige Ziele wie beispielsweise einen ausgeglichenen Staatshaushalt, internationale Verpflichtungen et cetera zu überbewerten. Diese Gefahr wird bereits in den Gründungsdokumenten der amerikanischen Verfassungsgeschichte beschrieben und mit einem direktdemokratischen Wahlsystem entgegnet, das die Responsivität der Mandatsträger zu den Wählerinteressen vor Ort sichern soll. Auf der anderen Seite wird Parteien vorgeworfen, sich zu sehr an den Wählerinteressen zu orientieren und aus opportunistischen (Wahl)Gründen unverantwortlich zu regieren. Längerfristige Ziele wie bspw. die Sicherung des Friedens, der Schutz des Klimas etc. treten dadurch in den Hintergrund. Diese Perspektive findet sich in den Gründungsdokumenten zu den europäischen Verträgen, die mit der Einrichtung einer unabhängigen Exekutive und Judikative die Responsibilität gegenüber den Zielen der europäischen Integration erhöhen.
Ein Korrektiv für die Parteien
Für die Nachkriegsperiode lässt sich die Erfolgsgeschichte repräsentativer Demokratien darauf zurückführen, dass Parteien die Ausbalancierung ihrer Responsivität zu den Wählerinteressen und der Responsibilität gegenüber den langfristigen Zielen einer Gesellschaft oder eines Landes weitestgehend gelang. Im Gegenzug ist für den Erfolg populistischer und sozialer Bewegungen der Eindruck entscheidend, dass diese Ausbalancierung verfehlt wird. Alternativ bieten politische Bewegungen eine andere Art der Interessenformulierung und Mandatsübertragung an. Während Parteien ihre ideologischen Interessen über programmatische Kompromissbildung zwischen den einzelnen Mitglieder- und Wählergruppen formulieren, gehen politische Bewegungen davon aus, das Gemeinwohl zu verfolgen. Schon die Vorstellung, dass es ein Gemeinwohl gibt, unterscheidet politische Bewegungen von Parteien. Der Glaube an die Existenz eines Gemeinwohls geht einher mit dem Verwerfen von (Partei)Alternativen, die in einer pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche Perspektiven für die Lösung eines Problems oder das Erreichen eines Ziels aufzeigen. Nicht ideologische Parteialternativen, sondern das „wahre“ Gemeinwohl geben politische Bewegungen vor zu verfolgen.
Unter diesem Primat wird auch das Führungspersonal von politischen Bewegungen nicht einem zeitlich befristeten Mandat unterworfen, das es am Ende einer festgelegten Periode über die Einlösung von Versprechen zu bewerten gilt. Vielmehr wird das Infragestellen des Führungspersonals von politischen Bewegungen oftmals gleichgesetzt mit dem Infragestellen der Wahrheit. Trotz ihrer Ablehnung von Alternativenwettbewerb und zeitlich befristeter Mandate kann politischen Bewegungen in repräsentativen Demokratien eine wichtige demokratische Funktion als Korrektiv für das politische Establishment beziehungsweise etablierte Parteien zukommen. Orientieren sich diese ausschließlich an den eher kurzfristigen Interessen der Wähler, dann riskieren sie die Vernachlässigung der langfristigen Herausforderungen für eine Gesellschaft oder eines Landes. Ein Beispiel hierfür dürfte die Verkrustung von Arbeits- und Sozialsystemen sein, die in vielen Ländern in- und außerhalb Europas maßgeblicher Faktor für eine hohe Staatsverschuldung ist, zu deren Bekämpfung am Ende Gegenmaßnahmen zu Lasten breiter Gesellschaftsschichten ergriffen werden.
Soziale Bewegungen gewinnen in solchen Situationen an Popularität und fordern das politische Establishment beziehungsweise die etablierten Parteien heraus, ihren kurzfristigen Kurs anzupassen. Betonen Parteien und ihre Vertreter dagegen zu sehr die Verantwortung gegenüber den langfristigen Herausforderungen für eine Gesellschaft oder eines Landes, dann erhöhen sie die Attraktivität von populistischen Bewegungen, die sich als Ausdruck des Wähler- beziehungsweise Volkswillens verstehen. Insofern können politische Bewegungen ein effektives Korrektiv für etablierte Parteien sein, die auf der einen Seite responsiv zu den Wählerinteressen vor Ort, auf der anderen Seite verantwortungsbewusst die langfristige Ziele einer Gesellschaft oder eines Landes im Auge behalten müssen.