„Stellt die Debatte über die Volksgesetzgebung endlich vom Kopf auf die Füße!", fordert Frank Decker. Der Politologe will eine klare Aufgabenteilung zwischen Volk und parlamentarischer Opposition. Auch, um den Weg freizumachen für besser integrierbare Elemente der Mitbestimmung – in den Ländern und bundesweit.
Direktdemokratische Elemente können ein sinnvolles Mittel sein, um die Schwächen der Parteiendemokratie auszugleichen. Voraussetzung dafür ist, dass sie vernünftig, das heißt systemgerecht, ausgestaltet sind. In der Bundesrepublik ist das nicht der Fall. Das klingt verwunderlich, hat man sich doch in den deutschen Bundesländern überall für die vermeintlich progressivste Variante der Direktdemokratie entschieden – die sogenannte Volksgesetzgebung. Diese gibt den Bürgern die Möglichkeit, selber Gesetze zu initiieren und sie nötigenfalls gegen den Willen der Regierenden durchzusetzen. Das potenziell sehr weitreichende Instrument bleibt aber ein weitgehend unerfülltes Versprechen, denn es wird in der Praxis stark eingeschränkt – durch umfangreiche Themenausschlüsse, hohe Quoren oder das Recht des Parlaments, Volksbeschlüsse zu korrigieren. In manchen Ländern steht die direkte Demokratie eigentlich nur auf dem Papier. Deshalb ist es konsequent, wenn die Befürworter der Volksgesetzgebung für Verfahrenserleichterungen eintreten, um sie tatsächlich anwendbar zu machen. Und die Volksgesetzgebung selbst gibt ihnen das Mittel an die Hand, um die Verbesserungen zu betreiben.
Wenn das Gesetzgebungsrecht des Volkes weiter ausgedehnt wird, bedarf es freilich keiner großen Fantasie, sich auszumalen, dass dann auch die Konflikte zwischen dem plebiszitären und parlamentarischen Gesetzgeber zunehmen. Was in Hamburg und Berlin, den beiden Ländern mit den meisten Volksentscheiden, in den letzten Jahren mehrfach passiert ist – dass volksbeschlossene Gesetze von der Regierung missachtet oder wieder rückgängig gemacht wurden –, könnte dann überall eintreten und zu einer verfassungsrechtlichen und -politischen Dauerauseinandersetzung um die Plebiszite führen. Dass dies nicht die Lösung sein kann, beweisen die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern, wo ein so weitreichendes Modell der Direktdemokratie praktisch nirgends verwirklicht ist –
nicht einmal in der Schweiz.
Das Hauptproblem der Volksgesetzgebung liegt also in ihrer Systemverträglichkeit. Indem sie den Primat der parlamentarischen Repräsentation aufhebt, unterläuft sie zugleich das Wechselspiel zwischen regierender Mehrheit und Opposition, auf dem die parlamentarische Demokratie basiert. Weil die Plebiszit-Befürworter diesen Zusammenhang nicht wahrhaben wollen, blockieren sie selbst die dringend notwendige Diskussion, ob man direktdemokratische Elemente nicht auch auf der Bundesebene einführen sollte. Deshalb wäre es an der Zeit, die Debatte endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen und sich von der Illusion eines plebiszitären Gesetzgebungsrechts zu befreien.
Damit könnte der Weg für andere Instrumente freigemacht werden, die sich in die bestehende parlamentarische Demokratie besser einfügen lassen. Vergleichsweise problemlos integrierbar wäre zum Beispiel ein obligatorisches Referendum bei wichtigen (nicht allen) Verfassungsänderungen, worunter auch Souveränitätsübertragungen an die EU fallen. Zweitens sollte das Parlament selbst das Recht erhalten, dem Volk eine Frage zur Abstimmung vorzulegen – so geschehen Ende 2015 bei der Hamburger Abstimmung über die Olympia-Bewerbung. Und drittens sollte man den Bürgern das Recht geben, das Parlament mittels einer unverbindlichen Initiative zur Beratung eines Vorschlags aufzufordern – eine Möglichkeit, die heute sogar auf der europäischen Ebene besteht. Nur wenn diese Alternativen zur Volksgesetzgebung ernsthaft erwogen werden, kann der „Volksentscheid auf Bundesebene" irgendwann Wirklichkeit werden.