
Längst hat die Unesco alte, vom Aussterben bedrohte Drucktechniken als immaterielles Kulturgut anerkannt. In Berlin-Treptow kümmert sich ein Verein seit 30 Jahren um den Erhalt dieser Kunstformen – dabei hat sich die Werkstatt Künstlerische Lithographie auf den Steindruck spezialisiert.
Verborgen hinter einem großen Holunderstrauch unweit vom Treptower Park steht ein unscheinbares, kleines Häuschen in einem Garten mit altem Baumbestand. Drinnen verbirgt sich ein wahrhafter Schatz: die Werkstatt Künstlerische Lithographie Berlin. Hier stellen Künstler aus Berlin aber auch aus dem gesamten Bundesgebiet, ja eigentlich aus der ganzen Welt ihre druckgrafischen Werke her. Aber bis am Ende ein gedrucktes Kunstwerk vorliegt, bedarf es zahlreicher aufeinander aufbauender Arbeitsschritte, fundierter Kenntnisse und einer guten technischen Ausstattung. Und die bietet die „Lithowerkstatt", wie sie kurz bei den Künstlern genannt wird.

Die Anfänge liegen im Jahr 1987: damals fand sich eine Gruppe Künstler um Wolfgang Arnoldi in Ost-Berlin zusammen und widmete sich alten Druckverfahren. Ihr erster Arbeitsraum lag in einer Mietwohnung in der Puderstraße und gehörte zum Kreiskabinett für Kulturarbeit von Treptow. In der zur Werkstatt umgestalteten Wohnung erweckten die Künstler unter Einsatz von zwölf Litho-Steinen die alte Steindruckpresse der Firma Sutter zu neuem Leben. Bis heute ist die Zahl der Steine natürlich angestiegen, die alte Presse aber druckt auch heute noch.
Die Wende brachte Veränderungen mit sich. 1991 gründeten die Künstler den gemeinnützigen Verein „Kunstwerkstatt Treptow". Im Frühjahr 1992 verlegten sie die Werkstatt in ein eigens dafür eingerichtetes kommunales Gebäude in der Defregger Straße. Besonders stolz sind die Mitglieder, dass sie den Betrieb über ihren Verein als freier Träger bis heute aufrechterhalten können. 2017 wurde das 30-jährige Bestehen mit einer großen Ausstellung in der Galerie „Alte Schule" im Bezirk Treptow-Köpenick gefeiert.
Drei Druckverfahren wenden die Kunstschaffenden hauptsächlich in der Werkstatt an: Hochdruck, Tiefdruck und Flachdruck. Bei allen drei Techniken arbeitet der Künstler spiegelverkehrt auf der Druckvorlage. So wird das Motiv beim späteren Druck korrekt wiedergegeben.

Die Grundlage für den Hochdruck, also das Material, mit dem später gedruckt wird, sind beispielsweise Holz- oder Linolplatten. Sie tragen das Motiv. Mit speziellen Schneidewerkzeugen werden sie bearbeitet, damit die hochliegenden Flächen, Linien und Punkte beim Druck die aufgetragene Farbe an das Papier abgeben.
Beim Tiefdruck fügt der Künstler der Druckplatte durch Gravieren, Stechen oder Ätzen Linien, Punkte, Motive hinzu. In diese Vertiefungen fließt die Farbe, gibt sie dann beim Druckvorgang wieder an das Papier ab.
Der lange Weg vom rohen Stein zum Kunstwerk
Die Lithographie ist ein Flachdruckverfahren und unterscheidet sich deutlich von den anderen Verfahren. Sie lebt von chemischen Prozessen, was dem Vorgang ein geheimnisvolles Flair verleiht. Die Grundlage für das Druckverfahren ist auch heute noch der Solnhofener Kalkschieferstein. Von ihm wird nichts abgetragen oder herausgeätzt. Der Künstler arbeitet auf dem Stein in fettführenden und fettabweisenden Schichten. Dabei macht er sich zunutze, dass sich Fett und Wasser abstoßen.
Eben hat Henry Ruck, Werkstattleiter und Gründungsmitglied des Vereins, einen 20 Kilo schweren Stein abgeschliffen, ihn auf den Arbeitstisch gewuchtet und für ein neues Werk vorbereitet. Seitenverkehrt zeichnet er darauf mit fetthaltigen Kreiden und Tuschen und erschafft so die zu druckenden Elemente. „Der Stein will eigentlich überall Fett haben. Der Künstler aber zielt auf Halbtöne, zum Beispiel Graustufen ab", erklärt Ruck.

Solche Zwischenstufen gab es bei 1798 bei Aloys Senefelder, dem Erfinder der Lithographie, noch nicht. Bei ihm ging es nämlich anfangs um das Drucken in Schwarz und Weiß. Im Laufe der Zeit hätten „Künstler das Handwerk verfeinert und so weiterentwickelt, dass wir heute auch Halbtöne erzeugen können", sagt Ruck.
Mit Techniken Experimentieren
Vor 30 Jahren habe er sich in die alte Handwerkskunst des Steindrucks eingefuchst. Jetzt trägt er in mehreren Schichten das Motiv auf. Und lässt immer wieder den Stein ruhen – manchmal sogar über Nacht, damit die Arbeit trocknet oder er gedanklich das Thema weiterentwickeln kann. „Erst das Wasser, dann die Säure – sonst geschieht das Ungeheure", erklärt der Werkstattleiter. Stimmt, dunkel erinnert man sich daran aus dem Chemieunterricht. In der Lithographie wird genau das angewandt – so kommen in mehreren Schritten unterschiedlichste Chemikalien unter anderem Salpetersäure, Gummiarabikum und Terpentinöl zum Einsatz. Die Abfolge der Schritte sollte genau eingehalten werden, damit aus der ursprünglichen Idee auch genau das Kunstwerk entsteht, das sich der Künstler anfangs vorgestellt hat. „Am Anfang habe ich drei Jahre nur mit verschiedenen Techniken in der Lithographie experimentiert, bis ich den Prozess einigermaßen verinnerlicht hatte", erinnert sich Steinkünstler Ruck – und erklärt, dass es bei dieser Technik darauf ankomme, quasi eine „Beziehung zum verwendeten Stein zu entwickeln". Denn jeder Stein sei anders und man müsse daher anders mit ihm umgehen.
Dieses Wissen könne man in keinem Kurs vermitteln. Lithographie-Experte Henry Ruck aber weiß dank seiner Erfahrung, wie bestimmte Steine und Oberflächen reagieren oder welchen Schritt er als nächsten gehen muss, damit der spätere Druck erfolgreich wird. Er formuliert das wie folgt: „Ich rede mit dem Stein – oder er redet mit mir. Er sagt, was er nicht haben will. Oder ich zeige ihm, wie ich etwas lieber haben möchte." Letztlich sei die Lithographie ein Prozess, dessen Geheimnisse man sich erarbeiten müsse.
Eine 500 Jahre alte Tradition

Der Kupferdruck, das älteste in Deutschland angewendete Druckverfahren, hat eine über 500 Jahre alte Tradition. Verglichen damit ist die Lithographie noch jung.
Anfänglich erstellte man damit schwarz-weiße Druckvorlagen für Printmedien wie Plakate oder Mitteilungsblätter. Im Laufe der Zeit eigneten sich Künstler die Technik an und verfeinerten sie. Bekannte Beispiele sind Henri de Toulouse-Lautrec, die Künstlergruppe „Die Brücke" oder die Collagekunst des Dada.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Printmedien im handwerklichen Druck hergestellt. Dann hielt der technische Fortschritt Einzug. Nach und nach verdrängte die industrielle Produktion die manuellen Drucktechniken. Künstler pflegten und pflegen die Druckgrafik als Kunstform weiter. Heute existiert sie nur noch in künstlerischen Werkstätten, Museen, Hochschulen, Schulen oder Volkshochschulen. Zudem macht das digitale Zeitalter auch vor dieser Kunstform nicht Halt: Kombinationsformen von digitaler Technik und traditionellem Handwerk entstehen – das ist zwar einerseits zuträglich für die Vielfalt. Andererseits kann es aber auch dazu beitragen, dass die traditionelle Technik sich verändert oder ganz verschwindet.

In der Lithowerkstatt in Berlin-Treptow sieht man daher einen Schwerpunkt der Arbeit darin, die alten Techniken zu pflegen und weiterzugeben. Und so haben in den vergangenen Jahren mehr als 400 Künstlerinnen und Künstler aus 20 Ländern das Angebot der Werkstatt genutzt. Auch des Themas Inklusion nehmen sich die Künstler an. Gefördert durch die Union Sozialer Einrichtungen Berlin gemeinnützige GmbH (USE) arbeiten in der Lithowerkstatt auch Menschen mit psychischer Behinderung an ihrer Kunst. Besonders stolz ist Werkstattleiter Ruck auf das Miteinander und den Austausch zwischen den so unterschiedlichen Menschen. Denn rund um Drucksteine und Presse mache man keine Unterschiede zwischen Jung und Alt, zwischen erfahrenen Künstlern oder Neulingen oder auch zwischen Menschen mit und ohne Handicap.