Hinter berühmten Gipsabgüssen von Opfern der Naturkatastrophe von Pompeji verbergen sich gänzlich andere Geschichten, als die Forschung bislang angenommen hat. Neue DNA-Analysen brachten Überraschendes zutage.
Giuseppe Fiorelli hatte seinerzeit eine geniale Idee. Als frisch ernannter Leiter der Ausgrabungen von Pompeji ließ Fiorelli ab 1863 die Hohlräume, die durch den jahrhundertelangen Zerfall organischen Materials in den erstarrten Lava-Lawinen entstanden waren, mit flüssigem Gips auffüllen. Dadurch konnten auch menschliche Opfer der Naturkatastrophe rekonstruiert werden. Denn obwohl ihre Weichteile komplett verfallen waren, hatten ihre Körper doch klar definierte dreidimensionale Formen in der dicken Lava-Schicht hinterlassen. Die gewonnenen Gipsabdrücke hielten den Gestus der Opfer zum Zeitpunkt ihres letzten Atemzugs gewissermaßen für die Ewigkeit fest. Von 104 der rund 1.000 identifizierten Opfer wurden daher ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts solche Gipsabdrücke erstellt. Einige davon wurden weltweit populär, vor allem die 1914 im „Haus des Kryptoportikus“ entdeckten sogenannten Two Maidens, die gelegentlich in deutscher Übersetzung auch als „Die zwei Jungfrauen aus Pompeji“ bezeichnet wurden, sowie der als vierköpfige Familie interpretierte Fund von 1974 im „Haus des goldenen Armbands“. Der legendäre deutsche Archäologe Johann Joachim Winkelmann hatte gut ein Jahrhundert zuvor eine wissenschaftlich bahnbrechende Dokumentation zur Zerstörung von Pompeji im Jahr 79 n. Chr. vorgelegt.
Viele Mutmaßungen waren schlicht falsch
2015 wurde in Pompeji das aufwendige Projekt einer neuerlichen Untersuchung und vor allem einer Restaurierung der Gipsabdrücke gestartet, wobei bis 2018 unter Leitung des Chef-Restaurators Stefano Vanacore die Arbeiten an 86 dieser Abdrücke fertiggestellt werden konnten. Dabei hatte einer der Beteiligten, David Caramelli, Professor für Anthropologie an der Universität Florenz, in manchen Abgüssen Knochenfragmente sicherstellen können. Allerdings war er zunächst nicht sonderlich optimistisch gewesen, dass man daraus noch Rückschlüsse über die DNA der Opfer gewinnen könnte. Doch als er in seinem Labor erste Erfolge in der Entschlüsselung der mitochondrialen DNA erzielte, entschloss er sich zu einer umfassenden Analyse mithilfe renommierter Kollegen.
Gemeinsam mit Alissa Mittnik vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und dem Genetiker Prof. David Reich von der Harvard University machte sich Prof. Caramelli an die Untersuchung von 14 der 86 bekannten Abgüsse. Das Team konzentrierte sich vor allem auf die Eruierung des genetischen Geschlechts, der eventuellen biologischen Verwandtschaftsbeziehungen und der Herkunft beziehungsweise Abstammung der Opfer. Dabei stellte sich heraus, dass ihre neu gewonnenen Ergebnisse, die sie jüngst im Fachmagazin „Current Biology“ veröffentlichten, die bisherigen wissenschaftlichen Annahmen, die lediglich auf dem äußeren Erscheinungsbild und der Positionierung der Abgüsse beruht hatten, weitgehend infrage stellen.
„Unsere Studie zeigt, wie die Analyse alter DNA auf archäologischen Daten basierende Interpretationen wesentlich ergänzen kann“, sagte Prof. Caramelli. „Die Ergebnisse stellen gängige Vorstellungen infrage, wie die Verbindung von Schmuck mit Weiblichkeit oder die Interpretation von physischer Nähe als Beweis für familiäre Beziehungen.“ Zudem könnten frühere Manipulationen nicht ausgeschlossen werden. „Es ist wahrscheinlich, dass frühere Restauratoren die Körperhaltung und die Positionierung der Abgüsse verändert haben, um eine Geschichte zu erzählen“, erklärte Prof. Caramelli. „Durch die Kombination von genetischen Daten und anderen bioarchäologischen Methoden können wir das Leben und die Gewohnheiten der Opfer des Vesuv-Ausbruchs nun besser verstehen.“
Pompeji war wohl sehr kosmopolitisch
Ganz prägnant war dabei fraglos die Entzauberung der Legenden um die beiden oben schon genannten bekanntesten Arrangements. Denn bei den beiden eng umschlungenen „Two Maidens“ handelte es sich keineswegs um zwei „Jungfrauen“, noch nicht einmal um Schwestern oder Mutter und Tochter. Zumindest eine der beiden Personen war männlichen Geschlechts. Und auch die vierköpfige Personengruppe im „Haus des goldenen Armbands“, der bislang einzigen Fundstelle, für die genetische Informationen gleich für mehrere Opfer ermittelt werden konnten, war für einige Überraschungen gut. Die vier Personen, die bislang als Eltern mit ihren Kindern gedeutet wurden, waren tatsächlich nachweislich genetisch nicht einmal miteinander verwandt. Und eine der erwachsenen Personen war keineswegs die Mutter des Kindes, das sie auf dem Arm trug. Auch wenn ein goldener Armreif diese Annahme vormals nahegelegt hatte.
Vielmehr handelte es sich um eine männliche Person, die genetisch keine Übereinstimmung mit dem ebenfalls im Raum befindlichen zweiten Mann und kleinen Jungen aufwies. Möglicherweise war das Tragen von auffälligem Schmuck wie Armreifen, was heute tendenziell vor allem mit dem weiblichen Geschlecht in Verbindung gebracht wird, daher damals auch bei Männern üblich. „Die Studie zeigt, wie unzuverlässig Narrative sein können, die auf begrenzten Beweisen beruhen und oft die Weltanschauung der Forscher zu dieser Zeit widerspiegeln“, betont Prof. Caramelli.
Auch über die Abstammung der Bewohner Pompejis und ihre unterschiedliche genomische Herkunft konnte das Team durch Auswertung der genetischen Daten und der Analyse von Strontium-Isotopen der Knochenfragmente Aufschluss erlangen. Dabei zeigte sich, dass die untersuchten Opfer in erster Linie von wohl noch nicht lange ansässigen Einwanderern aus dem östlichen Mittelmeerraum abstammten, etwa von Menschen, die aus der Levante, aus Anatolien oder aus Nordafrika an den Golf von Neapel gekommen waren. Das, so Alissa Mittnik, zeige „den vielfältigen und kosmopolitischen Charakter der Bevölkerung von Pompeji und spiegelt breitere Muster der Mobilität und des kulturellen Austauschs im Römischen Reich wider. Unsere Ergebnisse haben weitreichende Konsequenzen für die Interpretation archäologischer Daten und das Verständnis vergangener Gesellschaften. Sie unterstreichen, wie wichtig es ist, genetische Daten mit archäologischen und historischen Informationen zu verknüpfen, um Fehlinterpretationen aufgrund moderner Annahmen zu vermeiden.“