Rotterdam. Die gut einen halben Kilometer breite Neue Maas teilt Rotterdam in zwei Welten. Diesseits die Innenstadt, drüben in Koop van Zuid und Katendrecht eine futuristische Welt aus mehr als 50 Stockwerke hohen Wolkenkratzern. Ans Ufer duckt sich eine in die Jahre gekommene Glaskuppel mit einem roten Schriftzug auf der Spitze. „Tropicana“ steht dort immer noch.

Ans Ufer duckt sich eine in die Jahre gekommene Glaskuppel mit einem roten Schriftzug auf der Spitze. „Tropicana“ steht dort immer noch: der Name eines Pleite gegangenen Spaß- und Erlebnisbades aus den 70er-Jahren. 2015 kaufte ein Investor die leerstehende Schwimmhalle und schuf hier Platz für die Wirtschaft der Zukunft: ein Start-up-Zentrum mit inzwischen 55 Unternehmen der abfallfreien Kreislaufwirtschaft – die Blue City.
Immer wieder neue Nudel-Rezepte
Im Keller der Blue City füllt Sean Patrick Nudeln in Pappkartons ab, kein Plastik, keine Folien. Zwischen 135 und 160 Tier- und Pflanzenarten verschwinden jeden Tag von unserem Planeten. Vor allem der Abbau von Rohstoffen und die industrielle Landwirtschaft mit ihren intensiv gespritzten Monokulturen zerstören die Lebensräume von Tieren und Pflanzen. Dagegen will Sean etwas tun. Der 44-Jährige fertigt seine Nudeln aus dem, was ihm Landwirte aus der Umgebung liefern: aus alten Getreidesorten wie Emmer und Urkorn, aus Buchweizen und Gemüse wie Bohnen und Lebensmittelabfällen, die sonst ungenutzt im Abfall landen würden.
Die Landwirte bringen Sean, was sie geerntet oder gerade übrig haben. Er entwickelt daraus seine Nudel-Rezepte. Wenn die jeweilige Ernte den Inhalt der Nudeln bestimmt, gibt es keinen Grund mehr, große Monokulturen anzupflanzen, die nur mit viel Dünger und „Pflanzenschutzmitteln“ genügend Ertrag abwerfen. Seans Lieferanten arbeiten nach dem Konzept der „regenerativen Landwirtschaft“ weitgehend ohne giftige Spritzmittel und „de facto Bio“. Das Bio-Siegel sei den meisten nur zu teuer und die Zertifizierung zu aufwändig. „Die Höfe sind offen“, verspricht Sean. „Jeder kann hinfahren und nachsehen, wie meine Lieferanten arbeiten.“
Wie die deutschen klagen die niederländischen Bauern über zu niedrige Einnahmen. Die großen Handelsketten diktieren auch hier die Preise. Sean Patrick beteiligt die Landwirte an seinen Einnahmen. Er gibt ihnen die Möglichkeit, selbst unter seiner Anleitung Nudeln herzustellen oder die von ihm produzierte Ware mitzuverkaufen. So verdienen beide mehr als an Getreide und Gemüse.
Sean ist vor 14 Jahren aus Uganda zum Studium nach Holland gekommen – und geblieben. Studiert hat er Politik und Ernährungswirtschaft. Dann wollte er „praktischer arbeiten“, wechselte in die Lebensmittelherstellung und gründete schließlich sein eigenes Unternehmen.

Aus Ostafrika hat er einen anderen Blick auf Ernährung mitgebracht: „Die Menschen dort essen viele verschiedene Dinge in einer Mahlzeit“, erzählt er. „Eiweißhaltiges, mehrere Sorten Gemüse, Hülsenfrüchte und Stärke-Produkte zusammen.“ In Europa wunderte er sich über die eher einseitigen Gerichte. Nudeln mit Tomatensauce, Kartoffeln mit Brokkoli oder andere Gerichte mit wenig unterschiedlichen Zutaten.
Kaum teurer als normale Marken-Pasta
So kam er auf die Idee, schon die in Europa beliebten Nudeln aus möglichst vielen verschiedenen Getreiden und Gemüsen herzustellen, etwa Pasta aus einer wechselnden Mischung aus Buchweizen, Urkorn, Emmer, Möhren und Kürbis. So bekommen die Kunden in einer Form, die sie gewöhnt sind, viele verschiedene Nährstoffe mit einer Mahlzeit. Seans Nudeln sind in kochendem Wasser nach drei bis fünf Minuten gar. Bequemer geht gesunde Ernährung kaum. Angereichert wird das Rezept mit essbaren heimischen Blüten und etwa Walnüssen.
In Bioläden gibt es neben den üblichen Hartweizen-Nudeln längst Pasta aus Linsen, Erbsen und anderem Gemüse. Sean Patrick sieht darin einen Fortschritt, aber noch keinen Beitrag zu einer vielfältigen Landwirtschaft. „Wenn Du nur Linsennudeln produzierst, brauchst Du große Mengen an Linsen, die Du dann wieder in Monokulturen anbauen musst“, sagt er. Für die Artenvielfalt auf den Feldern ist damit nicht viel gewonnen.
Mit vier Euro pro 350-Gramm-Packung sind Seans Nudeln kaum teurer als übliche Marken-Pasta, die nur aus Hartweizen gemacht sind – gesamtwirtschaftlich gerechnet sogar günstiger. Denn: Rechnet man die Folgekosten von dünge- und spritzmittelintensiven Monokulturen, die Klimaschäden durch lange Transportwege für LKW, die Abnutzung der Straßen- und Autobahnen und alle weiteren Kosten der herkömmlichen Lebensmittelproduktion mit, wäre eine Packung vermeintlicher Billig-Nudeln aus dem Discounter deutlich teurer als die des Gründers Sean Patrick. Er begnügt sich „mit einer Marge, die mich ernährt und mein Geschäft trägt“. Er brauche dafür keine 200 oder 300 Prozent.
Noch günstiger sollen seine Nudeln durch das Konzept des „distributed manufacturing“ werden. Dazu hat Sean eine standardisierte kleine Fabrik für 800 bis 1.000 Kilo Nudeln pro Tag entwickelt. Diese kann man überall in geeigneten Räumen aufbauen. Die Maschinen sind schon darauf ausgelegt, viele verschiedene Rohstoffe zu Pasta zu verarbeiten. Skalieren, also größer ziehen, will der Gründer sein Konzept durch „Replikation“, also durch den Aufbau solcher gleich gebauten, immer weiter automatisierten kleinen Nudelfabriken an vielen verschiedenen Standorten, die dann die Zutaten aus der jeweiligen Region verarbeiten.

Seans Leckereien serviert eine Etage weiter oben das Restaurant Stroom. Die Gäste sitzen auf mehreren Ebenen zwischen den künstlichen Felswänden des einstigen Schwimmbads oder auf der Terrasse mit Blick auf den in der Sonne glitzernden Fluss, die futuristische Erasmusbrücke und die Skyline des neuen Rotterdam auf der anderen Seite.
Das Stroom serviert vor allem Produkte der Unternehmen in der Blue City: Bier aus Brot-Abfällen der kleinen Brauerei im Haus, Sean Patricks Nudeln oder Kroketten aus den Pilzen des Blue City Mitgründers Rotterzwam. Der züchtet Pilze auf Kaffeesatz, den die Mitarbeiter in Cafés und Restaurants einsammeln. Der Pilzzüchter Rotterzwam ist so erfolgreich, dass er die Blue City inzwischen verlassen hat. Sie versteht sich als Inkubator für junge Unternehmen, die Platz für Nachfolger machen, sobald sie wirtschaftlich auf stabilen Füßen stehen.
Probieren sollte man im Stroom auch die Burger aus Gemüse-Abfällen. Sie stehen wie alle anderen Spezialitäten hier auf den Speisekarten, die natürlich auf Recycling-Kunststoff gedruckt wurden.