Das Schengener Abkommen feiert seinen 40. Geburtstag. Derzeit ist die größte europäische Errungenschaft nach 1945 praktisch tot. Ob Grenzkontrollen überhaupt im gewünschten Ausmaß nutzen, ist unklar. Die Wissenschaft sagt Nein.

Die anfängliche Euphorie über die Personen-Freizügigkeit in den Schengen-Ländern ist längst verflogen. Fortlaufende Kontrollen an den Binnengrenzen gehören mittlerweile wieder zum Alltag. Die beiden größten EU-Staaten Frankreich und Deutschland marschieren vorweg und unterhöhlen ungeachtet der steigenden Kosten für Grenzkontrollen das Schengener Abkommen von 1985. Die Ausnahmen, die in gewissen Situationen nationale Grenzkontrollen erlauben, werden immer mehr zur Regel. Und der Aufschrei von Abertausenden Grenzgängern bleibt weitestgehend aus. Selbst die Proteste der regionalen Politik in Frankreich und Deutschland finden in Paris und Berlin wenig Gehör, wohlwissend, dass sie eh nichts daran ändern können. Denn Grenzfragen sind nationale Politik und die hat bei Fragen der inneren Sicherheit und deren Gefährdungslage Vorrang. Basta. So als hätten Grenzkontrollen bislang Attentate wie in Solingen, Magdeburg oder Aschaffenburg, allesamt Städte mitten in Deutschland und weit weg von irgendwelchen Binnengrenzen, verhindert.
Grenzkontrolle: Von der Ausnahme zur Regel
Dominik Brodowski, Rechtsprofessor an der Universität des Saarlandes mit Schwerpunkt Europa, hegt Zweifel an der Legalität der ständig verlängerten Grenzkontrollen. Die Grundregel des Schengener Abkommens samt Durchführungsverordnungen laute nun einmal keine Personenkontrollen an den Binnengrenzen. Das Gegenteil werde nun gemacht und die Gründe lauten illegale Migration, Terrorgefahr, Olympische Spiele, Fußball-Europameisterschaft, Pandemie. Dagegen vorgehen könne die EU-Kommission, die aber Angst vor den populistischen Parteien habe. Klagen können auch andere Mitgliedstaaten sowie die Bürgerinnen und Bürger selbst vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Die Klage eines Österreichers gegen Grenzkontrollen, der bei der Einreise nach Slowenien nur den Führerschein vorzeigen konnte, wurde übrigens als unzulässig abgewiesen.
Prof. Dr. Birte Nienaber, die an der Universität Luxemburg Migrationsforschung betreibt, geht noch einen Schritt weiter und sieht

in den permanenten Verlängerungen der Grenzkontrollen einen Verstoß gegen geltendes EU-Recht. Kontrollen an den Binnengrenzen können die Probleme mit der illegalen Migration aus ihrer Sicht eh nicht lösen. „Migranten kommen dann sowieso auf anderem Wege zu uns.“ Die Verwaltung und der Grenzschutz seien überfordert. Sorgen bereite ihr vor allem, dass die Solidarität in Europa leide und Grenzkontrollen eine Kettenreaktion bei den Schengen-Staaten auslöse getreu dem Motto so du mir so ich dir. Ein Lichtblick gebe es zumindest in Osteuropa, wo die osteuropäischen Staaten Bulgarien und Rumänien seit Beginn des Jahres Vollmitglied im Abkommen seien. Inzwischen gibt es wieder feste Häuser an der Grenze zu Luxemburg für die Bediensteten der Bundespolizei und das ausgerechnet im symbolträchtigen Schengen, für die Professorin ein Indiz für ein Festschreiben der Grenzkontrollen. Nienaber ist selbst Grenzgängerin und pendelt täglich zwischen Luxemburg und dem Saarland, nimmt Umwege und Abkürzungen in Kauf, um die teilweise bis zu 45 Minuten andauernden Staus an der Autobahn bei Schengen zu vermeiden.
Die beiden Professoren waren neben Sabine Wachs, langjährige Frankreich-Korrespondentin beim Saarländischen Rundfunk, Gastredner auf der Diskussionsveranstaltung „40 Jahre Schengen“ im Rathaus Saarbrücken. Eingeladen hatten unter anderem die Europäische Akademie Otzenhausen, die Stadt Saarbrücken, Europe Direct, die Asko-Europa-Stiftung und das Frankreichzentrum der Uni des Saarlandes; die Fragen stellte Timo Stockhorst von der Europäischen Bewegung Saarland.
„Die wissen nicht, wie Europa funktioniert“
Erschreckend sei, dass viele Menschen in der Grenzregion die Kontrollen inzwischen als gar nicht so schlimm empfinden würden nach dem Motto früher ging es doch auch damit, so Sabine Wachs, die eine Reportage in Lothringen zum Thema Grenzkontrollen gemacht hat. Zwar hat die Luxemburger Abgeordnetenkammer im vergangenen Jahr einstimmig eine Resolution gegen die Grenzkontrollen verfasst und Deutschland aufgefordert, Stellung zu beziehen. Aber genutzt hat es bisher wenig. Die Bundespolizei kontrolliert weiterhin und verschärft die Grenzen als Schutz der einheimischen Bevölkerung vor Terroranschlägen und illegaler Einreisen. Klar, das Großherzogtum braucht wohl wie kein anderes EU-Land die Arbeitskräfte aus den Nachbarländern und wehrt sich schon aus wirtschaftlichem Eigeninteresse gegen Grenzkontrollen. Über 200.000 Menschen pendeln jeden Tag allein aus Lothringen, Wallonien, Rheinland-Pfalz und dem Saarland zur Arbeit nach Luxemburg. Angeblich gibt es bereits Menschen, die wegen der Fahrerei und den Staus an den Grenzen der Großregion den Rücken kehren.

„Von der Evaluierung der Kontrollen hört man dagegen sehr wenig“, betont Birte Nienaber. Sie ist überzeugt, dass viele zurückgewiesene Migranten die Grenze unwissentlich passiert hätten, um beispielsweise einzukaufen so wie es die Bewohner der Grenzregion halt machen. Das habe schon eine Umfrage im Jahr 2020 gezeigt. Asylbewerber müssen nämlich bis zur Entscheidung in dem jeweiligen Land der Antragstellung bleiben. Und überhaupt: Niemand redet über die Kosten für Bundespolizei, für die Wirtschaft aufgrund der langen Schlangen und für die Umwelt wegen der Staus. Es sei eine Mär zu glauben, die Binnengrenzen komplett kontrollieren zu können. Alleine das Saarland hat 34 offizielle Grenzübergänge, Saarbrücken insgesamt 13. Fest kontrolliert wird an den Autobahnen, sporadisch bis gar nicht an den vielen kleinen Übergängen. Die Bundespolizei selbst, die die Kontrollen durchführen muss, hat bereits mitgeteilt, dass aufgrund der rechtlichen Unsicherheit am Ende keinesfalls die Polizistinnen und Polizisten belangt werden dürften.
Kein Druck auf Berlin, Paris oder Brüssel
Doch danach fragt derzeit kaum jemand. Vor allem in Wahlkampfzeiten sind Grenzkontrollen als Thema gut geeignet, um vermeintlich Stimmen am äußeren rechten Rand zu fischen. „Die danach rufen, kennen die Grenzen oftmals gar nicht, wissen nicht wie Europa funktioniert“, so Nienaber weiter. „Von wegen fünf Minuten und nur mal den Pass vorzeigen.“ Es sei erschütternd, wie die Populisten die demokratischen Parteien vor sich hertreiben und sich diese auch noch die Argumente der Rechten zu eigen machen wie jüngst als Kanzlerkandidat Friedrich Merz, der, nun gewählt, Grenzkontrollen wieder als selbstverständlich ansehe.
Die nationalen Politiker zeigen damit ihr wahres Gesicht, was sie vom Schengener Abkommen wirklich halten: gar nichts, hieß es auf der Veranstaltung. Misstrauen bestand schließlich von Anfang an, als 1985 das Abkommen aus der Taufe gehoben wurde. Denn zur Unterzeichnung in das beschauliche Luxemburger Grenzörtchen Schengen kam lediglich die zweite Garde aus den Gründerstaaten Deutschland, Frankreich und Benelux. Dabei ging es den beiden europäischen Staatschefs François Mitterrand und Helmut Kohl mit der Einigung Europas vor vielen Jahren einmal gar nicht schnell genug. Sie unterzeichneten bereits 1984 das sogenannte Saarbrücker Abkommen als Vorläufer von Schengen mit dem Ziel, die EU für die Bürgerinnen und Bürger greifbarer zu machen. Immerhin will die Stadt Saarbrücken rechtlich prüfen lassen, ob die aktuellen Grenzkontrollen mit diesem Vertrag konform sind.

Man darf auf jeden Fall gespannt sein, wer aus der nationalen Politik bei der Wiedereröffnung des Europäischen Museums in Schengen im Sommer auflaufen wird und das Abkommen als Erfolg feiert.
Hart ins Gericht gingen auch einige Gäste aus dem Publikum an diesem Abend mit der regionalen Politik, die sich zwar für die Abschaffung der Grenzkontrollen mit Worten starkmacht, aber faktisch nichts bewegt oder eben nichts bewegen kann. Wo bleibt beispielsweise die Stimme vom Gipfel der Großregion, vom Interregionalen Parlamentarierrat oder vom Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit? Wo bleibt der Druck aus der Region auf die nationalen Regierungen in Paris und Berlin oder auf Brüssel, die Grenzkontrollen wieder abzuschaffen? Da sollte auch mal über Parteigrenzen hinweg geschaut und Tacheles geredet werden, so ein Fazit des Abends. Übrig ist vielleicht nur noch der Geist, aber keine praktische Umsetzung Schengens. Um in den Worten des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker anlässlich seines 70. Geburtstags im Dezember 2024 zu reden: „Ein Europa ohne Grenzen, in Frieden und Freiheit, dabei muss es bleiben.“