Immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens verlagern sich ins Digitale, manchmal ohne analoge Alternativen. Dieser „Digitalzwang“ kann zum Problem werden – nicht nur für Ältere. Braucht es ein Recht auf analoges Leben?

Mal eben einen Arzttermin online buchen, ein Bahnticket über die App kaufen, im Café oder Supermarkt per Smartphone bezahlen: Für viele Menschen in Deutschland ist das inzwischen selbstverständlicher Teil des Alltags. Doch längst nicht für alle. Das Statistische Bundesamt veröffentlichte kürzlich Zahlen, wonach gut fünf Prozent der Menschen zwischen 16 und 74 Jahren – 3,1 Millionen Menschen – überhaupt nicht online sind. Und einer Umfrage des IT-Branchenverbands Bitkom zufolge nutzen 22 Prozent der Befragten kein Smartphone. Bei den über 65-Jährigen ist es mehr als ein Drittel, bei den 16- bis 29-Jährigen sind es fünf Prozent.
Wenn immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sich ins Digitale verlagern, bedeutet das für diejenigen, die diese Entwicklung nicht mitmachen können oder wollen, immer öfter: Kein Anschluss unter dieser Nummer. Unternehmen, Behörden und Kultureinrichtungen koppeln bislang auch analog verfügbare Produkte und Dienstleistungen vermehrt an einen Internetzugang oder an ein Smartphone mit bestimmten Apps, ohne echte Alternativen. Kritiker sprechen von „Digitalzwang“. Zu seinen Risiken und Nebenwirkungen zählt eine neue Art von Ausgeschlossensein und Vereinsamung. Wer sich nicht einloggt, ist out.
Braucht es womöglich ein Recht auf analoges Leben, eine gesetzlich verbriefte Möglichkeit, auch ohne Smartphone oder Internet am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können?
Ja, findet Heribert Prantl, Jurist und einer der bekanntesten Publizisten Deutschlands. Anlässlich des 75. Geburtstags des Grundgesetzes fordert er, dieses um ein „Grundrecht auf analoges Leben“ zu ergänzen: „Die Grund- und Daseinsvorsorge für einen Menschen darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass er digitale Angebote nutzt“, so Prantl in einem Interview mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen. „Der zunehmende Digitalzwang“, sagt er, sei „eine Diskriminierung der Handylosen, die sich ein Smartphone nicht leisten können oder wollen.“ Ganz ähnlich sieht das der Bürgerrechtsverein Digitalcourage. Er hat eine entsprechende Petition ins Leben gerufen (www.digitalcourage.de/digitalzwang).
Dagmar Hirche geht einen anderen Weg, den man Starthilfe zur Selbsthilfe nennen könnte. Mit ihrem Verein „Wege aus der Einsamkeit“ will sie Menschen über 65 – die größte Gruppe der Offliner – zu ihren ersten Schritten in die digitale Welt ermutigen. Ältere Menschen würden immer stärker isoliert, wenn sie nicht digital vernetzt seien, heißt es auf der Internetseite des Vereins. Ihnen gingen „immer mehr Informationen, Hilfestellungen und Wissenswertes verloren“. Seit rund zehn Jahren bietet der Verein deshalb persönliche Gesprächsrunden dazu an, wie man in dieses Internet kommt, was ein Wlan ist, wozu ein Smartphone so alles taugt. Seit der Corona-Pandemie gibt es auch Videokonferenzen – für diejenigen freilich, die schon wissen, wie das funktioniert.
Neues Modellprojekt Telefonzelle 4.0
Hirche, mit 67 Jahren inzwischen selbst im Zielgruppenalter, gibt ihre eigene Digitalisierungsbegeisterung mit einer einfachen Methode weiter: Statt „Schulungen“ veranstaltet sie „Gesprächsrunden“. Klingt nicht so einschüchternd. Und wenn das Wort „Provider“ fällt, übersetzt sie es direkt mit „Telekommunikationsanbieter“. Was zwar etwas ungelenk klingt – vermutlich auch deshalb wurde „Provider“ so gebräuchlich –, dafür verstehen es in den Gesprächsrunden alle. Denn, so Hirche: „Ganz viele, die nicht digital unterwegs sind, sagen: Wir verstehen schon die Worte nicht, die verwendet werden – und dann müssen wir auch noch lernen, wie das funktioniert!“
Hirche glaubt, es gebe eine weitverbreitete Scham, die eigene Überforderung mit der digitalen Komplexität zuzugeben. Eine Idee, wie man diesem Problem begegnen könnte, hat sie auch: „Warum nicht ein öffentlich-rechtliches Fernsehprogramm für digitale Bildung, das 24 Stunden am Tag erklärt, wie all diese Dinge funktionieren?“ Hirche findet zudem, dass man analoge Alternativen bereitstellen müsse, solange nicht alle Menschen tatsächlich an der Digitalisierung teilhaben – es gebe schließlich auch Menschen, die aufgrund von Krankheiten, Armut oder körperlichen Beeinträchtigungen davon ausgeschlossen sind.
Schon kleine digitale Hürden können für manche zum unüberwindbaren Hindernis werden. Für diese Menschen bieten die Caritas Bonn und der katholische Wohlfahrtsverband SKM Köln an drei Standorten in Köln und Bonn das Modellprojekt Telefonzelle 4.0 an. Der Name ist ein wenig irreführend, es geht nicht um die gelben oder magenta-grauen Kästen auf den Straßen, die ältere Generationen noch von früher kennen. Im Rahmen des Projekts bekommen Menschen das digitale Leben erklärt: Ehrenamtliche helfen ihnen dabei, online Behördengänge zu erledigen, Anträge bei Ämtern zu stellen oder sich bei der Schuldnerberatung zu melden. Jörn Unterburger vom SKM Köln nennt die Telefonzelle 4.0 eine „digitale Fähigkeiten- und Fertigkeitenwerkstatt“.
„Die Digitalisierung hilft einem bestimmten Prozentsatz von Menschen, die über die entsprechenden Fertigkeiten und finanziellen Mittel verfügen“, sagt Unterburger. Doch sie schließe auch einen Teil der Gesellschaft aus. Schon jetzt gebe es Ämter, die analoge Wege der Antragstellung erschweren – oder deren Möglichkeit verschweigen. „Wenn die Digitalisierung sich in diese Richtung weiterentwickelt, sehen wir die Gefahr, dass Menschen in existenzielle Nöte kommen.“ Etwa, wenn sie am Beantragen von Arbeitslosengeld oder anderen sozialen Leistungen scheitern.
Unterburgers Kollegin Hannah Lindner von der Caritas Bonn ist ein Fall in Erinnerung, in dem Ratsuchende keinen Termin mit der Ausländerbehörde vereinbaren konnten – weil das nur digital ging. „Man brauchte dafür eine E-Mail-Adresse“, so Lindner. „Aber nicht jeder hat eine.“ Analoge Möglichkeiten der Kontaktaufnahme fehlten.
Nadia Kutscher, Professorin für Soziale Arbeit und Erziehungshilfe an der Universität zu Köln, forscht seit Jahren zu digitaler Ungleichheit und sagt: „Viele digitale Angebote, die mit der entsprechenden Bildungssozialisation selbstverständlich erscheinen, sind sehr voraussetzungsvoll und schließen Benachteiligte aus.“ Kutschers Lehrstuhl begleitet die Köln-Bonner Telefonzelle 4.0 wissenschaftlich. Eines der Zwischenergebnisse: Manchen Menschen fehlen grundlegendste Digitalkenntnisse. Sie können nicht scannen. Sie wissen nicht, was ein PDF ist – geschweige denn, wie man eines erstellt.
Kutscher betont, dass die offiziellen Statistiken zur Verbreitung von Internet und Smartphones ein verzerrtes Bild erzeugen. „Dass jemand ein Smartphone besitzt, bedeutet nicht, dass er auch über alle notwendigen Fähigkeiten verfügt, um sich in der digitalen Welt zurechtzufinden.“ 41 Prozent der Befragten geben in einer aktuellen Bitkom-Umfrage an, dass sie sich von der zunehmenden Digitalisierung überfordert fühlten – auch unter den 30- bis 49-Jährigen ist der Anteil mit gut einem Drittel hoch.
Viele haben auch schlicht Datenschutzbedenken – und dies oft zu Recht, findet Kutscher. Sie kritisiert, dass zahlreiche Apps und Programme zu Standarddiensten geworden seien, die alles andere als datensicher sind – als Beispiele nennt sie WhatsApp, Facebook und Office 365. Sie beklagt in dieser Hinsicht ein Bildungsdefizit. „Die spannende Frage ist: Wer befähigt eigentlich die Menschen dazu, sich differenziert und datenkritisch in dieser ganzen Umgebung zu bewegen?“
Aus Kutschers Sicht sollte es aus all diesen Gründen auch künftig analoge Alternativen und Brückenangebote geben. Zu den Firmen, die wenig vorbildlich sind, was solche Alternativen angeht, zählt die Wissenschaftlerin die Deutsche Bahn. Denn immer mehr Bahnangebote werden von der DB an ein Online-Kundenkonto und eine E-Mail-Adresse gekoppelt. Oder sogar an die Nutzung der Smartphone-App „DB Navigator“, der die Stiftung Warentest attestierte, es mit dem Datenschutz nicht so genau zu nehmen.
„Die Bahn will ihre Kunden in diese digitalen Systeme reinzwingen“, sagt Detlef Neuß, Bundesvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn. Das sei betriebswirtschaftlich verständlich, schließlich spare sie so Vertriebskosten. „Aber man kann doch Menschen, wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht an diesen Systemen teilnehmen können oder wollen, nicht vom Bahnbetrieb ausschließen.“
Analoge Alternative weiterhin gefordert
Der Fahrgastverband Pro Bahn hat deshalb eine „Resolution gegen Smartphonezwang im öffentlichen Verkehr“ verabschiedet. Auch der Verbraucherzentrale Bundesverband beanstandet die ruppige Digitalstrategie der Bahn und fordert eine „Mobilität ohne Digitalzwang“. Er verweist auf eine repräsentative Onlinebefragung (!), wonach 64 Prozent der Deutschen es kritisch sähen, wenn Bahnfahrkarten ausschließlich über das Internet und in Apps erhältlich wären. Eine Bahnsprecherin verwies auf Anfrage darauf, dass inzwischen 90 Prozent aller Fernverkehr-Tickets digital verkauft würden. Deutschland sei viel digitaler, als man denke. „Wer zunächst noch gar nicht auf eine analoge Alternative verzichten möchte, der kann auch in Zukunft statt der App einen Papier-Ausdruck seiner Bahncard im Zug vorzeigen.“ Dafür seien lediglich ein Kundenkonto und eine E-Mail-Adresse nötig. Dazu, dass Teile des DB-Angebots ohne Smartphone-App nicht nutzbar sind, wollte sie sich nicht äußern.

Natalie Hilmers ist einer der Menschen, die ganz bewusst auf ein Smartphone verzichten. Für ihre Masterarbeit „Leben ohne Smartphone“ an der Universität Jena hat sie mit Gleichgesinnten gesprochen. Die Gründe für den Smartphoneverzicht seien vielfältig, sagt Hilmers: „Datenschutzbedenken zählen natürlich dazu. Der Wunsch, der Informationsflut Einhalt zu gebieten. Das Bedürfnis, mehr im Hier und Jetzt zu sein, sich nicht ständig ablenken zu lassen. Oder auch der Versuch, dem Suchtpotenzial vieler Smartphone-Apps zu widerstehen.“
Allerdings würden die Hürden für diese Menschen in einer „tiefgreifend mediatisierten Welt“ immer höher, so Hilmers. Und bisweilen unüberwindbar. Das musste sie auch schon selbst erfahren. So blieb ihr das stark vergünstigte Deutschlandticket für Studierende verwehrt. Das gab es an der Uni Jena nur per Smartphone-App.