In Wittenberg lebte und lehrte Martin Luther. Hier soll er seine 95 Thesen an die Schlosskirche angeschlagen haben. Neben dem berühmten Reformator finden sich hier noch Spuren anderer historischer Persönlichkeiten.
Wer mit dem Zug am Hauptbahnhof von Wittenberg ankommt, wird vermutlich auf direktem Weg zur Collegienstraße schlendern, dorthin, wo sich eine Sehenswürdigkeit an die andere reiht. Doch das ist erst der Anfang – und selbst auf dem zentralen Marktplatz mit dem imposanten Rathaus ist noch kein Ende der Zeitreise ins Mittelalter abzusehen. Wittenberg ist keine große Stadt, aber eine Stadt mit großer Wirkung. Um sich dies vor Augen zu führen, lohnt sich zunächst ein kleiner Schlenker, unweit des Bahnhofs, der Elbe entgegen, die hier von einer kühnen Brückenkonstruktion überspannt wird. Denn von dieser Brücke aus bietet sich ein geradezu malerischer Blick auf die Lutherstadt: flach geduckt hinter Sandbänken, Wiesen und Bäumen und lediglich überragt von den Doppeltürmen der Stadtkirche und dem 88 Meter hohen, reichlich verzierten Turm der Schlosskirche. Wittenberg liegt da ganz still in der Auenlandschaft, die zum Biosphärenreservat Mittelelbe gehört und seit 1979 unter den Schutz der Unesco gestellt wurde.
Ohnehin ist die Gegend mit Auszeichnungen reich gesegnet. Allein im Umkreis von 35 Kilometern erwarten den Besucher drei Unesco-Weltkulturerbestätten: die Luthergedenkstätten in Wittenberg, das Bauhaus in Dessau und das Dessau-Wörlitzer Gartenreich. Selten liegen Natur und Kultur so eng beieinander wie hier in Mitteldeutschland. Obgleich so unspektakulär an der Elbe gelegen, war die Lutherstadt Wittenberg Epizentrum eines geistigen Erdbebens: der Reformation. Sie hat das Denken, Handeln und den Glauben insbesondere in Europa für immer verändert. Und hier hat alles begonnen.
Wittenberg wurde 1180 erstmals erwähnt
1180 wurde Wittenberg erstmals urkundlich erwähnt und entwickelte sich in der Folgezeit durch seine günstige Lage an einer Elbfurt und an der Via Regia, einer bedeutenden Handelsroute, zu einem Flecken mit wirtschaftlichem Potenzial. Gut 100 Jahre später erhielt der Ort das Stadtrecht. Aber es dauerte nochmals 200 Jahre, bis Wittenberg sich zu einem Machtzentrum entwickelte. Das war Kurfürst Friedrich dem Weisen zu verdanken, der 1489 eine neue kurfürstliche Residenz errichten ließ und dessen kulturelles Interesse den Boden für ein geistiges Klima bereitete, in dem die Reformation gedeihen konnte.
Die intellektuelle Keimzelle dafür war die Universität – genannt Leucorea (griechisch: weißer Berg), gegründet 1503 von Friedrich dem Weisen – die ursprünglich als Bildungseinrichtung der künftigen Elite gedacht war.
Die Leucorea wurde in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts – als dort Martin Luther und Philipp Melanch-thon lehrten – zur meistbesuchten Hochschule Europas, zur theologischen Drehscheibe Europas und zum Exportzentrum reformatorischer Ideen. Heute ist die Stiftung Leucora in die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg integriert und fungiert als Tagungsort und Forschungszentrum. Sie ist in der Collegienstraße zu besichtigen.
Ganz am Anfang dieser schönen Straße lohnt es sich in jedem Fall, das Lutherhaus zu besuchen, ebenfalls ein Teil des Unesco-Welterbes. Spätestens von hier an kommt kein Wittenberg-Besucher mehr an Martin Luther vorbei. Das mächtige Gebäude war ab 1504 als Augustiner-Eremiten-Kloster errichtet worden. Als Luther sich 1511 endgültig in Wittenberg niederließ und er später eine Professur für Bibelauslegung erhielt, reifte seine Einsicht, dass der Mensch nur durch den Glauben an Gott und nicht durch den Kauf päpstlicher Ablassbriefe erlöst werden könne.
Dieser durch Rom geförderte Ablasshandel war für Luther theologisch fragwürdig und ein Ausdruck eines moralischen Missstandes. Am 31. Oktober 1517
soll er seine 95 Thesen an der Tür der Schlosskirche angeschlagen haben und damit begann eine Bewegung, die die Kirche und das politische Gefüge Europas erschütterte. Die Ideen der Reformation verbreiteten sich durch Flugschriften und Buchdruck in Windeseile, und Wittenberg war zum Zentrum dieser Bewegung geworden.
Das Lutherhaus bietet einen umfassenden Einblick in das theologische Wirken des Reformators, einen biografischen Rundgang mit vielen Originalen wie einem Druck der 95 Thesen und Ablassbriefe, aber auch einen Einblick in den Alltag und sein tägliches Leben als Ehemann und Vater. Katharina von Bora, Luthers Frau und von ihm öfter als „mein Herr Käthe“ angesprochen, galt als tüchtig, gebildet und sparsam. Für die damaligen Verhältnisse eine selbstbewusste, fortschrittliche Frau. Ihr ist eine Bronzestatue vor dem Lutherhaus gewidmet.
Schöner Ausblick vom Turm der Kirche
Wer sich ein Bild von der Reformation machen möchte, sollte sich die Werke von Lucas Cranach dem Älteren, Hofmaler Friedrichs des Weisen und Freund Martin Luthers, unbedingt anschauen. Er gilt als visueller Architekt der Bewegung. In den bis heute erhaltenen Cranach-Höfen, die als Werkstätten dienten, entstanden zahlreiche Altargemälde und unzählige Porträts seiner Zeitgenossen, wobei von ihm Luther vor allem auch als Mensch, Familienvater und Streiter für seine Sache dargestellt wurde. Zudem prägte der Maler auch die Geschicke der Stadt. Er war Ratsherr, mehrfach Bürgermeister Wittenbergs und vielseitig engagierter Unternehmer. Der Marktplatz mit dem Rathaus und der Stadtkirche St. Marien in unmittelbarer Nachbarschaft bildet das Zentrum Wittenbergs. Umgeben von prächtigen und aufwendig renovierten Bürgerhäusern trifft man hier wie selbstverständlich wieder auf die deutlichen Spuren Luthers und Cranachs. Im Mittelpunkt der Kirche vermittelt vor allem der Reformationsaltar ein Gespür für die Lebenswelt dieser Zeit. 1547/48 von Lucas Cranach dem Älteren und seinem Sohn Lucas Cranach dem Jüngeren geschaffen, bebildert der Altar wesentliche Elemente des neuen Glaubens. In der als Mutterkirche der Reformation bezeichneten Stadtkirche wurden Martin Luther und Katharina von Bora getraut, und hier fand auch der erste evangelische Gottesdienst statt. Die Kirchenbesucher sangen ihre Lieder auf Deutsch, und ebenso wurde die Predigt in der Muttersprache der Wittenberger gehalten (also in einem westgermanischen Dialekt).
Es muss einen intensiven Meinungsaustausch in dieser kleinen Stadt gegeben haben, dort, wo jeder jeden kannte, einen anhaltend quirligen Disput in diesen bewegten Zeiten. Zumal sich die großen Geister kannten und mitunter über den Weg liefen. Die Namensschilder an den Häuserfassaden in der Wittenberger Innenstadt lesen sich wie das Whos who der deutschen Reformationsgeschichte: unter ihnen Philipp Melanchthon, der Universalgelehrte, Verfasser der ersten Schulgrammatik und Autor der Augsburger Konfession – noch heute Grundlage für die evangelischen Kirchen. Mit dabei: Hieronymus Schürf, Rechtsbeistand Martin Luthers auf dem Reichstag zu Worms. Dessen Bruder Augustin sezierte als erster Mensch im Beisein von Theologen einen menschlichen Kopf. Eine Sensation! Vor dem Rathaus, einem repräsentativen Bau des selbstbewussten Bürgertums, gebaut von 1523 bis 1535, mehrfach umgebaut und heute Verwaltungszentrum der Stadt, stehen die Denkmäler der bekanntesten Professoren der Stadt: Luther und Melanchthon. Früher ging es auf diesem Marktplatz nicht so christlich zu. Hier veranstaltete der Adel Ritterturniere, Gerichtsurteile wurden öffentlich verkündet und vollstreckt. 1728 fand hier die letzte Hinrichtung statt. Susanna Hoyer kam aufs Schafott und wurde gerädert, weil sie die Kinder ihres dritten Ehemannes vergiftet hatte. Bei der Untersuchung des Falls kam heraus, dass sie offenbar auch ihre früheren Männer umgebracht hatte.
Ein Besuch der Schlosskirche unweit des Marktplatzes krönt den Wittenbergbesuch. Hier also, am Nordportal, soll Luther seine 95 Thesen angenagelt haben. Die Holztür ist natürlich längst verschwunden. Dafür sieht der Betrachter vor der gegossenen und 22 Zentner schweren Tür die Thesen in Latein. Im Inneren der Kirche, ganz in der Nähe des neugotischen Altars, sind Martin Luther und sein Mitstreiter Philipp Melanchthon beigesetzt.
Ein wenig mühselig und steil, aber auf jeden Fall lohnenswert, ist der Aufstieg auf den Turm der Schlosskirche über eine schmale Wendeltreppe. Von hier oben hat man den denkbar besten Überblick über die Stadt und die Umgebung, und es hat den Anschein, als schaue man aus der Vogelperspektive auf ein mittelalterliches Städtchen aus dem Modellbaukasten. Zwar hinterließ der Zweite Weltkrieg keine flächendeckende Zerstörung, aber es wurde viel getan, um das historische Erbe authentisch zu erhalten. Dass die Stätten der Reformation zum Unesco-Welterbe gehören, ist also mehr als gerecht. Die Lutherstadt Wittenberg ist auf jeden Fall eine Reise wert.