Wie können Menschen, die nach Deutschland kommen, besser in die Gesellschaft eingegliedert werden? Seit Jahren arbeiten sich Integrationsexperten daran ab. Eine sich durchsetzende Erkenntnis: Die Zeit der Leitkultur scheint vorbei zu sein.
Für Berlin-Touristen ist die Karl-Marx-Straße in Neukölln längst ein Muss. Nirgendwo in Deutschland können die Besucher innerhalb einer U-Bahnstation in wenigen Minuten vom Berliner Abendland ins Morgenland wechseln. Längst ist es nicht mehr allein der legendäre Dönerladen, der den Flair der Einkaufsmeile bestimmt.
Berlins drittlängste Einkaufsstraße mit knapp drei Kilometern hinter Kudamm und Schloßstraße ist längst ein Basar nach orientalischem Vorbild geworden. Der Besucher taucht in eine andere Welt ein, in der zum Teil auch noch Deutsch gesprochen wird. Arabisch in Schrift und Ton bestimmen das Straßenbild, daneben auch Türkisch. Die Shisha-Bar ist neben der Dönerstube allgegenwärtig, dazu kommen Barbershops, von denen es gefühlt alle 20 Meter einen gibt.
Feilschen wie auf orientalischem Basar
Vor den türkischen, syrischen oder jordanischen Supermärkten wird bei jedem Wetter auf der Straße um Gemüse und Obst gefeilscht. Es stehen zwar Preise an den angebotenen Waren, aber die sind hier verhandelbar.
Längst gelebte Realität nicht nur in Berlin-Neukölln, sondern auch in Duisburg, Mannheim oder Hamburg, wenn auch nicht auf drei Kilometer Länge in nur einer Straße. Nur hat der Berliner Südwestbezirk, der die Dimension einer deutschen Großstadt hat, das Problem, dass er in den vergangenen Jahren gerade an Silvester oder bei politischen Ereignissen in arabischen Staaten mit Negativ-Schlagzeilen für Aufmerksamkeit gesorgt hat.
Dort lebende Menschen mit Migrationshintergrund feierten die Ereignisse in den Heimatländern ihrer Groß- oder auch Urgroßeltern mit frenetischem, teils gewalttätigem Aufruhr, auch unter Zeigen von Symbolen, die nach deutschem Recht verfassungsfeindlich sind, nicht aber nach der Scharia.
Die Reaktionen waren entsprechend – und auch die Forderungen. „Wir dürfen keine Parallelgesellschaften in Deutschland zulassen“, betont zum Beispiel Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz immer wieder bei allen sich bietenden Anlässen. Aber auch aus der SPD oder von den Grünen werden diese Mahnungen vor entstehenden Parallelgesellschaften immer wieder betont.
Was aber ist die „Parallelgesellschaft“? Wie ist das in einem Berliner Kiez in Großstadtgröße mit einem muslimisch geprägten Bevölkerungsanteil von über 90 Prozent, in dem sich die Minderheit aber eigentlich als Vertreter der Mehrheitsgesellschaft begreift? Was sie bezogen auf die Bundesrepublik mit ihren Grundorientierungen ja auch ist. Die Konfliktträchtigkeit liegt auf der Hand und wird täglich sichtbar.
Parallelgesellschaft nicht nur in Berlin
Wie auch immer die kulturellen Orientierungen sein mögen, haben sich alle an geltendes Recht zu halten. Verfassungsfeindliche oder antisemitische Äußerungen oder Taten haben da nichts verloren, wie überall hierzulande. Aber bei der Durchsetzung staatlicher Regeln und Ordnung wird immer wieder die Frage nach der Verhältnismäßigkeit bei Polizeieinsätzen aufgeworfen, von Migrationsverbänden oder Kulturvereinen, aber auch im politischen Raum.
Am Ende führt das auch zu Reaktionen, die eine andere Form von Integrationspolitik fordern. Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik hat unlängst dazu aufgerufen, eigenes Verhalten in bestimmten Bezirken der Bundeshauptstadt anzupassen. Konkret: auf Kippa oder Regenbogenschal in überwiegend muslimisch bewohnten Vierteln lieber verzichten. „Es gibt allerdings Bereiche – und so ehrlich müssen wir an dieser Stelle sein –, da würde ich Menschen, die Kippa tragen oder offen schwul oder lesbisch sind, raten, aufmerksamer zu sein“, wird Slowik zitiert.
Was wiederum als „Offenbarungseid“ kritisiert wurde. Der Publizist Michel Friedman etwa wettert: „Ich bin ein Bürger und ein Mensch, und dann sagt mir eine Stadt, du kannst nicht in ein Viertel, weil es da zu gefährlich ist. Geht’s noch?“ Da hilft dann auch wenig, dass Slowik beteuert, sie habe nur grundsätzlich zur Achtsamkeit aufgerufen, ansonsten sorge die Polizei natürlich für Sicherheit.
Die Debatte um Parallelgesellschaften in bestimmten Quartieren und Stadtteilen ist weder neu noch ausschließlich ein Berliner Problem.
Sprache ist Schlüssel zur Integration
Der Vorsitzende des Sachverständigenrates der Bundesregierung für Integration und Migration (SVR), Professor Hans Vorländer, weist auf die Zwiespältigkeiten hin: Einerseits ist nachvollziehbar, wenn Menschen aus anderen Ländern zunächst dorthin gehen, wo bereits Landsleute sind. Andererseits wachsen eben dadurch die Communitys, die gleichzeitig ihre eigene Kultur weiter pflegen. Was dann auch zu den bekannten Problemen führt. Vorländer: „Es ist in manchen Hinsichten sehr wichtig, gerade wenn Menschen neu zu uns kommen, dass ihnen dort schnell geholfen wird, alleine schon wegen der Sprache“. Vorländer weiter: „Aber für ein Gemeinwesen ist es natürlich auch wichtig, dass es zu interkulturellen oder -ethnischen Kontakten kommt, dass es keine Form starker Segregation gibt, also der räumlichen Absonderung einer Bevölkerungsgruppe nach sozialen, ethnischen oder kulturellen Merkmalen. Und das weder im Schulbereich noch im Bereich des Wohnens, weil es dann eben auch zu Konflikten kommen kann.“
Für Vorländer ist klar, wie dem zu begegnen wäre: „Deshalb ist es auch so wichtig, dass man sowohl in der Wohnungspolitik als auch in der Bildungspolitik versucht, Menschen zusammenzubringen und sie in einen Austausch hineinzubringen und nicht jeden sich alleine überlässt.“ Keine Antwort kann der Beauftragte für Integration und Migration der Bundesregierung auf die Frage geben, wie das gelingen soll, wenn sich die Bevölkerungsanteile weiter verändern, es also einen immer größer werdenden Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte im Land gibt.
In einem anderen Punkt ist Vorländer dagegen klar. Sprache bleibt der Schlüssel schlechthin: „In der Regel ist es so, dass über die deutsche Sprache natürlich auch eine Form der kulturellen Integration stattfindet, vor allen Dingen, wenn man sich dann eben mit Nachbarn unterhalten möchte und, was ganz wichtig ist, um sozusagen einen störungsfreien Integrationsprozess beobachten zu können.“