Vom Abwasserbecken zum Olympia-Pool: Die notorisch verschmutzte Seine soll bald wieder so sauber sein, dass man darin schwimmen kann – erst die Athleten, dann alle Stadtbewohner. Schon jetzt haben sich die autofreien Ufer des Flusses in eine Flaniermeile verwandelt.
Ob man als Anfänger die ersten Schritte macht oder sich als Fortgeschrittener etwas von echten Profis abschauen will, ob man noch blutjung ist oder schon im fortgeschrittenen Alter: Alle sind am Quai Saint-Bernard willkommen. Das gilt übrigens nicht nur für die Tänzer, die sich zum Takt der Musik bewegen. Man braucht auch das mal still genießende, mal frenetisch klatschende Publikum.
Am linken Ufer der Seine, zwischen Botanischem Garten und dem Kulturzentrum Institut der arabischen Welt, ist vormittags nicht viel los. Abends während der Woche, am Wochenende schon am Nachmittag, treffen sich dann aber die Tänzer. Afro-Beats mischen sich mit dem Hip-Hop aus einer Boombox, ein paar Schritte weiter ertönen Salsaklänge, dann Swing und Rock’n’Roll. Tanzen unter freiem Himmel direkt am Fluss: So klingt der Pariser Sommer. Und im Herbst, wenn die Leute aus den Ferien zurück sind, zieht das Spektakel noch mehr Leute an.
Flaniermeilen und Picknickwiesen
Was vor Jahrzehnten am Quai Saint-Bernard begonnen hat, setzt sich inzwischen durch die ganze Stadt fort: Die Bewohner von Paris entdecken wieder die Seine. Einige Kilometer des Flussufers zählen schon seit 1991 zum Unesco-Welterbe. Hier stehen ikonische Bauwerke vom Mittelalter bis zum heutigen Tag, es lässt sich außerdem die im 19. Jahrhundert umgesetzte und oft kopierte Stadtplanung von Baron Haussmann mit quer durchs Zentrum verlaufenden Sichtachsen bestaunen. Außerdem sind die Brücke Pont Alexandre III, Grand und Petit Palais sowie der Eiffelturm Zeugen wichtiger Weltausstellungen.
Relevant war das alles jedoch fast nur für Architekturfans, Historiker und die Touristen. Inzwischen aber haben sich viele weitere Abschnitte des Seine-Ufers, an denen lange Zeit nur der Verkehr rauschte, in autofreie Flaniermeilen und Picknickwiesen verwandelt. „Paris Plage“ bringt im Sommer mit Tonnen an aufgeschüttetem Sand das Meer in die Stadt. Geht es nach der rührigen Bürgermeisterin, soll die Stadt sogar bald wieder baden gehen können. Seit 1923 ist das in der notorisch verschmutzten Seine verboten. Doch in naher Zukunft soll der Fluss wieder so sauber werden, dass man hier ohne Gefahr für Leib und Leben ins Wasser steigen kann. Klappt alles wie geplant, machen die Athleten der Olympischen Spiele den Anfang. 2025 soll die Seine dann für wirklich alle Stadtbewohner bereit sein.
Boule und Beachvolleyball
Zum ersten Mal in der Geschichte werden die Olympischen Spiele am 26. Juli nicht in einer Arena eröffnet: Paris inszeniert die Feier mitten in der Stadt, mit einer Parade auf der Seine. Eine Armada von mehr als 150 Booten soll die 10.500 Athleten quer durch die Stadt tragen, auf einer sechs Kilometer langen Strecke von der Pont d’Austerlitz zur Pont d’Iena und damit vorbei an vielen bekannten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Wegen verschärfter Sicherheitsvorkehrungen dürfen zwar nicht mehr, so wie ursprünglich geplant, 600.000 Menschen zuschauen und neben der Parade noch insgesamt zwölf künstlerische Performances erleben, sondern nur noch die Hälfte. Doch das ist immer noch etwa fünfmal so viel Publikum wie in einem großen Olympiastadion.
Die Sportveranstaltung wirbelt den Alltag der Einwohner aktuell zwar gehörig durcheinander. Die Ufer der Seine im Sommer für die Erholung nutzen, das machen die Pariser schon seit über 20 Jahren. Im Jahr 2002 setzte sich der damalige Bürgermeister Bertrand Delanoë gegen Proteste der Autofahrer durch und verwandelte einen Teil des rechten Seineufers in den Stadtstrand „Paris Plage“. Bars, Boule-Plätze und Beachvolleyball fanden so viele Fans, dass das Projekt immer größer wurde und auch auf das linke Seineufer ausgeweitet wurde. Die aktuelle Bürgermeisterin Anne Hidalgo setzte die dauerhafte Verwandlung von Teilen der zweispurigen, 13 Kilometer langen Schnellstraße Voie Georges-Pompidou in eine Promenade durch: Nun sind mitten in den dicht besiedelten Vierteln Spaziergänger, Jogger, Inlineskater und Fahrradfahrer unterwegs. Und die Romantiker, die rund um die Pont Neuf ein Schloss als Zeichen ihrer Verbundenheit anbringen wollen, können sich die Liebesschwüre ins Ohr flüstern, ohne dass diese von Hupkonzerten übertönt werden.
Die Seineufer zählen zu den schönsten Orten, um in Paris den Sommer zu genießen. Doch mit dem Wasser in Berührung kommen? Das will dann doch niemand. Erlaubt ist es seit mehr als 100 Jahren ohnehin nicht mehr, obwohl sich die Wasserqualität schon wieder verbessert hat. Lebten in den 70er-Jahren in der Seine nur noch drei Arten von Fischen, so sind es inzwischen mehr als zehnmal so viele.
Die Bürgermeisterin will in die Seine springen
An verschiedenen Orten im Stadtgebiet werden Tag für Tag Proben genommen. Oft wäre das Baden gesundheitlich unbedenklich, aber eben nicht immer: Nach starkem Regen ist die Kanalisation überlastet, sodass Fäkalien nicht in den Kläranlagen landen, sondern in den Fluss gespült werden. Die Olympischen Spiele sollen nun den Wendepunkt markieren: Geht die Planung der Ingenieure auf, werden zwei Wettkämpfe im Wasser der Seine stattfinden, der Triathlon und das Freiwasserschwimmen. In Paris wurde deshalb über Jahre hinweg darauf hingearbeitet, den Fluss wieder badefähig zu machen. Rund 1,4 Milliarden Euro sind inzwischen vor allem in großen Rückhaltebecken für Regenwasser verbaut, auch die an den Quais vertäuten Hausboote sowie Tausende von Wohnungen sind größtenteils ans Klärsystem angeschlossen.
„Wenn es nicht viele Tage lang durchgehend katastrophal heftig regnet, haben wir damit die Garantie, dass die Wasserqualität stimmt und wir die Wettkämpfe wie geplant abhalten können“, kommentierte der Verantwortliche Pierre Rabadan bei einem Pressetermin. Der hohe Wasserstand der Seine und lokaler Platzregen machten den Planern zwar jüngst einen Strich durch die Rechnung. Doch nun soll der wichtigste Baustein des Projekts, ein 50.000 Kubikmeter fassendes Bassin am Gare d’Austerlitz, in Betrieb gehen. Einen Plan B gibt es nicht: Im Gespräch ist nur, die Wettkampftage bei schlechtem Wetter zu verlegen.
Der Polizeichef, der Präfekt der Region, die Bürgermeisterin und der Präsident: Sie alle wollen vor dem Start der Spiele in die Seine springen. Ob der Termin – geplant war ursprünglich der 23. Juni – tatsächlich klappt oder ob das Quartett noch etwas abwartet, wird sich zeigen. Für die Menschen in Paris ist die PR-Aktion ohnehin unerheblich, sie hoffen auf das kommende Jahr. 2025 sollen nämlich drei Badezonen in der Seine eingerichtet werden, eine davon mit Blick auf den Eiffelturm. Bojen werden dort den Bereich für Schwimmer abtrennen, denn Ausflugsschiffe und Lastkähne verkehren auf der Seine natürlich weiterhin. Wenn man sich bald nicht mehr vor Bakterien fürchten muss, dann vielleicht vor etwas anderem?
Der Regisseur Xavier Gens hatte da eine Idee, die geschickt das verstärkte Interesse an der Seine aufgreift und auch thematisiert, dass große Sportevents aus Prestigegründen oft ohne Rücksicht auf Verluste durchgezogen werden. Wer dieser Tage in Paris unterwegs ist, sieht immer wieder Plakate für den Öko-Thriller „Im Wasser der Seine“, der gerade bei Netflix ausgespielt wird. Der irre Plot: Kurz vor einem Triathlon-Wettkampf, gedacht als Generalprobe für die Olympischen Spiele, wird ein Hai in der Seine geortet. Dass viel Blut fließt, wenn ein hungriges Monster die Stadt der Liebe heimsucht und sich munter vermehrt, kommt wenig überraschend. Dass die Stadt unter Wasser gesetzt wird und sich so wortwörtlich in ein Haifischbecken verwandelt, dagegen schon.
Nach 101 Minuten hat man den Horrorstreifen überstanden, er wird nicht als „Hailight“ in die Filmgeschichte eingehen. Dass über zwei Millionen Einwohner sowie die Besucher von Paris ab dem kommenden Jahr vermutlich wieder in der Seine baden können, ist dagegen echt der Bringer – und Realität.