Sie sei die berühmteste unbekannte Künstlerin der Welt, sagte schon ihr Mann John Lennon. Das über 60-jährige Kunstschaffen von Yoko Ono war von vielen flüchtigen Aktionen geprägt, und doch wird sie bleibende Spuren hinterlassen.
Yoko Ono macht es den Menschen einfach, Teil eines Kunstwerks zu sein: Sie müssen sich nur mit dem Handy fotografieren und das Bild unter dem Hashtag #smilesfilm in ihre Social-Media-Kanäle hochladen. „Mein ultimatives Ziel ist es, einen Film zu machen, der einen lächelnden Schnappschuss von jedem einzelnen Menschen auf der Welt enthält", sagte sie bereits 1967. Das erste Lächeln sammelte sie von John Lennon ein; später erklärte sie dem Interviewer David Frost, dass diese Bilder anstelle von Zahlen in den Nachrichten gezeigt werden sollten – jedes Lächeln stehe für ein Individuum.
Man kann dieses Projekt in seinen Ursprüngen vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs einordnen, allerdings läuft es bis zum heutigen Tag – ebenso, wie weiterhin anonyme Opferstatistiken in den Nachrichten erscheinen. „Unser Lächeln verändert Stimmungen und Meinungen, denn es strahlt positive Energie in die Welt hinaus, schafft Freude, Heilung und Frieden und verändert das Universum zum Besseren", schreibt Ono auf der 2012 eröffneten Webseite smilesfilm.com.
Yoko Onos Kunst ist immer emotional und fordert häufig zum Handeln auf. „Instructions" (Anweisungen) sind ein wiederkehrendes Motiv ihrer Arbeiten. Bahnbrechend war ihr Künstlerbuch „Grapefruit" (1964), ein Anschlag auf den konventionellen Kunstbegriff und ein frühes Stück Konzeptkunst. Darin heißt es zum Beispiel: „Rauche alles, was du kannst. Einschließlich deiner Schamhaare." Oder: „Spring in alle Pfützen in der Stadt." Kunstschaffende fordert sie auf, ihre Werke fotografieren zu lassen und sie anschließend zu zerstören – erst dann würde ein Bild existieren. Ad absurdum führte sie den klassischen Kunstbetrieb auch mit der bis heute aufgeführten Performance „Sky Piece for Jesus Christ" (1965). Dabei wird ein Musikensemble während des Spielens in Mullbinden eingewickelt, bis keine Bewegung mehr möglich ist und der Ton erstickt.
Der Gedanke, dass jeder Mensch ein Künstler sein könne, verbreitet sich in den Sechziger-Jahren. Unter dem Begriff Fluxus (lateinisch: Fließen, Fluss) finden weltweit Happenings statt, bei denen es nicht auf die handwerkliche Ausführung des Kunstwerks, sondern auf die schöpferische Idee ankommt. Diese Aktionskunst soll den gesellschaftlichen Rahmen sprengen, den insbesondere die Jüngeren als überkommenes Korsett empfinden. Yoko Ono, aufgewachsen mit den strengen traditionellen Werten der japanischen Oberschicht, identifiziert sich mit der neuen Kunstströmung. In einem ihrer ersten bekannten Werke, „Painting to Be Stepped On" (1960/61), lässt sie die Galeriebesucher auf dem Fetisch Gemälde herumtrampeln.
Feministische Performance-Kunst
Dieser „Conceptional Art" fühlt sie sich bis heute verbunden. Sie sei deshalb eher eine Denkerin als eine Macherin, schreibt der Journalist Ray Connolly anlässlich ihres 90. Geburtstags. Er kennt sie seit der Zeit mit John Lennon. Der Brite beschreibt sie auch als rätselhaft, da sie ihre inneren Gefühle niemals zeige. Sichtbar wurde dies besonders in ihrer Aktion „Cut Piece" (New York, 1964). Dabei kniete die junge Frau auf einer Bühne und forderte die Anwesenden auf, mit einer Schere Teile ihrer Kleidung abzuschneiden. Sie erträgt es stoisch, still duldend – auch als ein Mann ihren BH zwischen den Brüsten durchschneidet. Ein Auftritt, der nicht allen Zuschauerinnen gefiel. Dennoch gilt „Cut Piece" als Prototyp feministischer Performancekunst. Yoko Ono interpretiert die Darstellung in der Rückschau als „Überleben". Man müsse eine starke und erfahrene Frau sein, selbst wenn man andere Leute mit einem machen lasse, was sie wollen. Für sie war das kein Widerspruch und sie wiederholte den Auftritt sogar noch einmal im Alter von 70.
In den vergangenen Jahren hat die Künstlerin verschiedene Aktionen in internationalen Ausstellungen reinszeniert und damit einem zeitgenössischen Publikum nahegebracht. Dass dies funktioniert, spricht für die Stärke ihrer Werke. Was vor 60 Jahren ein völlig neuer Ansatz war, nämlich die Kunst aus dem Elfenbeinturm zu holen und alle zum kreativen Mitmachen aufzufordern, ist heute Normalität: In vielen Posts in den sozialen Medien dreht es sich genau um die „künstlerische" Selbstdarstellung und das eigene Bild. Die Partizipationsmöglichkeiten sind im 21. Jahrhundert unendlich geworden und Yoko Ono gehört zu den wenigen Konzeptkünstlerinnen der ersten Generation, die ihre Aktionen auf Instagram, Twitter und Facebook weiterführen. Man kann von einer Crowdsourced-Kunst sprechen.
Ihre Serie „Wish Tree" (seit 1996) ist hingegen ein Beitrag, der ihre Retrospektiven ergänzt und gerne in Skulpturenbiennalen aufgenommen wird, so auch 2019 in Bad Homburg. Dabei werden landestypische Bäume gesetzt, in Deutschland waren es Apfelbäume. Die Besucherinnen und Besucher dürfen – nach einem japanischen Tempelbrauch – Zettel mit persönlichen Wünschen an die Äste hängen. Aus der Ferne gesehen, verwandeln sich die jungen Bäume quasi in eine blühende Skulptur. Nach Ablauf der Aktion werden die Papiere nach Island gebracht und unter einem weiteren Ono-Kunstwerk, dem „Imagine Peace Tower", eingelagert. Dazu später mehr.
In ihrer langen Karriere hat Yoko Ono vieles ausprobiert und wurde in den ersten Jahren von der Kritik und der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. John Lennon muss als ihr größter Promoter betrachtet werden. Sie schrie – mit ihrer experimentellen Musik im wahrsten Sinne des Wortes – nach Beachtung. Auch wenn sich die Rezeption ihrer Werke zu ihren Gunsten geändert hat, ihr Vermögen, das auf eine halbe Milliarde Dollar geschätzt wird, hat sie weniger mit ihrer Kunst als durch die anhaltende Vermarktung der Beatles-Rechte gemacht. Man muss ihr allerdings zugute halten, dass sie eine anscheinend unverwüstliche Stehauf-Frau ist, die sich durch Misserfolge und bisweilen scharfe, sehr persönliche Kritik nicht von ihrem Weg hat abbringen lassen hat.
Geradezu symbolisch für ihren Werdegang steht das „Mend Piece" (1966/2017). Wieder gibt sie den Museumsgästen Anweisungen: „Mend carefully" (sorgfältig reparieren). Mit Klebstoff, Nadel und Faden sowie Paketband soll man eine zerbrochene Tasse wieder zusammensetzen. Idealerweise sollen mehrere Leute gleichzeitig an einem Tisch arbeiten und sich darüber austauschen. Ein Dialog entsteht – für Yoko Ono eine Grundvoraussetzung, um die Welt zu verbessern.
Fotografie, Film, Skulpturen, Papierarbeiten, Installationen, Musik und Performances: Die japanisch-amerikanische Künstlerin hat alles – oft spielerisch-humorvoll – ausprobiert und somit Beiträge zu verschiedenen Kunstströmungen geliefert. Repetition Art, ebenfalls in den 1960er-Jahren entstanden, zeigt sie, wenn sie gleichförmig beschriftete Glaszylinder aus der Apotheke ausstellt. Alltagsgegenstände wie eine Uhr, einen Apfel oder ein Stethoskop präsentiert sie als Objets trouvés. Eine Spielart von Minimalismus ist auch die von ihr kreierte Performance „Bagism" („Sackismus"): Menschen steigen in schwarze Stoffsäcke und bewegen sich wie lebendige Objekte. Beispiele früher Videokunst sind ihre „Bottoms"-Filme (1966-67): Schwarz-Weiß-Aufnahmen prominenter nackter Hintern in Bewegung – ein „Swinging London" der besonderen Art.
Yoko Ono ist ihrer Linie treu geblieben. Noch vergangenes Jahr richtete sie eine ortsspezifische Installation in der Europäischen Kulturhauptstadt Kaunas aus. Im historischen Gebäude einer Bank stellte sie mit Hilfe ihres langjährigen Kurators und Freunds Jon Hendricks 100 unterschiedlich große Holzsärge auf. Der Titel: „Ex it". Dazwischen wachsen die für Litauen typischen Birken und Kiefern. Das Werk strahlt eine stille Poesie aus, so wie schon ihre Tonband-Aufnahme „Tape of the Snow Falling at Dawn" (kann man das denn hören?).
Yoko Ono praktizierte eine Technik, lange bevor sie zum trendigen Mindset wurde: Achtsamkeit. Ihre Installation „To See the Sky" (2015) ist ein solcher simpler Anstoß: Eine Wendeltreppe aus Stahl führt bis unter die gläserne Decke des Ausstellungsraums. Oben angekommen kann man in den Himmel blicken – nicht mehr und nicht weniger. Während ihrer Jugend im Zweiten Weltkrieg habe es nicht viel Schönes in ihrem Leben gegeben, sagt Yoko Ono dazu – außer dem Himmel. So entstand eine lebenslange Faszination für Wolken. Ihre Einzelausstellung im Kunsthaus Zürich 2022 überschrieb sie entsprechend mit „This room moves at the same speed as the clouds".
Ultimatives Kunstwerk in Island
Um den Himmel dreht es sich auch bei ihrem ultimativen Kunstwerk, dem „Imagine Peace Tower" auf der Insel Videy bei Reykjavik. Am 9. Oktober 2007, John Lennons Geburtstag, schoss erstmals die gewaltige Lasersäule in den nordischen Nachthimmel. Seitdem strahlt das Friedenslicht alljährlich vom 9. Oktober bis zum 8. Dezember, Lennons Todestag, und ebenso am 18. Februar – Onos Geburtstag. Auch wer zwischen dem 20. und 27. März in der Gegend ist, hat eine Chance, das bis zu 4.000 Meter hohe Licht zu beobachten. Das „Geschenk von John & Yoko an die Welt" steht unter der Ägide der Reykjavik-Museen und wird durch Wasserkraft-Elektrizität „befeuert".
Mehr als zwei Millionen Wünsche aus den weltweiten „Wish Tree"-Aktionen lagern inzwischen unter dem „Imagine Peace Tower". „Liebe ist ein Gefühl, das wir alle haben, es sei denn, wir blockieren es aus keinem anderen Grund als Angst", twitterte Yoko Ono vor einigen Tagen. Mit Beharrlichkeit und niederschwelligen Botschaften hat sie sich ihren verdienten Platz in der Kunstwelt erarbeitet.