Künstliche Intelligenz ist längst Teil des Pflegealltags geworden. Digital- und Pflegeexperte Heiko Mania vom NursIT Institute erklärt, wie digitale Systeme entlasten können. Dabei soll Technik nichts ersetzen – sondern mehr Zeit für echte Zuwendung schaffen.

Die größte Herausforderung im deutschen Pflegesystem ist längst identifiziert: der akute Mangel an Pflegekräften. Bereits heute fehlen über 100.000 Fachkräfte in der Alten- und Krankenpflege – Tendenz steigend. Prognosen zufolge wird sich diese Lücke bis 2035 nahezu verdoppeln, wenn nicht gegengesteuert wird. Allein durch Ausbildung und Zuwanderung lässt sich der wachsende Bedarf allerdings nicht decken. Immer mehr Fachleute setzen deshalb auch auf technologische Unterstützung – allen voran auf Künstliche Intelligenz (KI) und Robotik.
Doch was bedeutet das konkret? Wie kann Technologie dort helfen, wo menschliche Zuwendung gefragt ist? Und wie lässt sich verhindern, dass Pflege durch Technik entmenschlicht wird?
Ein kurzer Blick in die Praxis zeigt: KI ist in vielen Bereichen der Pflege längst angekommen – allerdings leise, meist in Form digitaler Assistenzsysteme. Pflegekräfte dokumentieren Vitalwerte per App, automatisierte Systeme planen Dienstpläne oder prüfen Medikationsverläufe auf mögliche Risiken. Sensoren erkennen, ob ein Patient stürzt, ob er sich ungewöhnlich wenig bewegt oder unregelmäßig atmet. All das geschieht bereits heute – nicht als Zukunftsvision, sondern in ausgewählten Modellprojekten, Pflegeheimen oder Rehakliniken.
KI ist in der Pflege längst angekommen
Auch in der Robotik hat sich vieles getan. Rehabilitationsroboter wie „Lio“, „Robear“ oder „Garmi“ helfen Pflegebedürftigen beim Aufrichten, Umbetten oder beim Halten von Gleichgewicht. In Japan ist der humanoide Roboter „Pepper“ in Altenheimen im Einsatz, führt Gespräche, singt, spielt Spiele – als sozialer Begleiter. In den Niederlanden testet ein Pflegeverband derzeit den robotischen Assistenten „Zora“ zur Aktivierung von Menschen mit Demenz.
„Technisch ist heute sehr viel mehr möglich, als gesellschaftlich akzeptiert oder pflegepraktisch implementiert ist“, sagt Heiko Mania, Pflegeexperte und Geschäftsführer des NursIT Institute. Das Unternehmen entwickelt digitale Anwendungen speziell für Pflegeprozesse – von smarter Dokumentation bis zu KI-gestütztem Personalmanagement. Mania beschäftigt sich seit Jahren mit den Potenzialen und Grenzen digitaler Technologien im Pflegealltag. Für ihn ist klar: Der Beitrag von KI wird oft entweder romantisiert oder verteufelt – beides greift zu kurz. „Wir müssen realistisch einschätzen, wo Technik tatsächlich entlastet – und wo sie nicht ersetzen, sondern ergänzen kann.“
Gerade das sei in der Praxis entscheidend: Wie viel Automatisierung ist sinnvoll? Welche Aufgaben lassen sich delegieren? Und wie wirkt sich das auf die Qualität der Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten aus?
Ein gutes Beispiel dafür, wie Technologie ganz konkret helfen kann, sind sogenannte passive Assistenzsysteme. Diese arbeiten im Hintergrund – unspektakulär, aber effektiv. Sensoren im Boden erkennen Bewegungsmuster und schlagen Alarm bei Stürzen. Matratzen mit integrierter Druckmessung melden Positionsveränderungen und helfen, Wundliegegeschwüre zu vermeiden. Lichtsysteme orientieren sich an Tagesrhythmus und Bewegungsabläufen und erhöhen so Sicherheit sowie Selbstständigkeit. Auch automatische Medikamentenspender oder digitale Türsysteme für demenziell erkrankte Menschen gehören dazu.
Mania warnt jedoch davor, Technik nur unter Effizienzdruck zu betrachten. „Wenn digitale Lösungen ausschließlich eingesetzt werden, um Personal einzusparen, geht das zulasten der Menschlichkeit.“ Viel sinnvoller sei es, Technik zur Unterstützung zu nutzen: um Freiräume für Gespräche zu schaffen, um körperlich entlastende Tätigkeiten zu übernehmen oder um Angehörige gezielter einzubinden.
Technik ist kein Ersatz für Empathie
Besondere Aufmerksamkeit erregen derzeit sogenannte emotionale Roboter – also technische Systeme, die auf Mimik, Tonlage oder Bewegungsmuster reagieren und selbst darauf antworten. Die kleine Roboterrobbe „Paro“ zum Beispiel wurde in Japan für den Einsatz bei demenziell erkrankten Menschen entwickelt. Sie kann schnurren, Geräusche imitieren und auf Streicheln reagieren. Studien zeigen, dass Paro zur Beruhigung beiträgt, Stress reduziert und teilweise den Einsatz von Psychopharmaka senken kann. Ähnliche Ergebnisse gibt es aus Projekten mit dem sozialen Roboter „Buddy“, der einfache Aufgaben übernehmen, aber auch emotionale Unterstützung leisten kann.
Doch so beeindruckend viele dieser Systeme wirken – es bleiben ethische Fragen. Was macht das mit Menschen, wenn eine Beziehung zur Maschine aufgebaut wird? Wie lässt sich emotionale Bindung an Technik verantworten – besonders bei kognitiven Einschränkungen?
Für Mania ist klar: „Pflege ist immer auch Beziehungspflege. Technik darf diese Beziehung nicht ersetzen, wohl aber stabilisieren und entlasten.“ Wichtig sei, dass Pflegekräfte die Hoheit über die Technik behalten – sowohl in der Anwendung als auch in der Bewertung.
Ein weiterer Aspekt ist die Ausbildung. Bisher ist die Auseinandersetzung mit digitaler Pflegeunterstützung in den Schulplänen vieler Pflegeschulen nur marginal vorhanden. Mania plädiert für eine stärkere Integration digitaler Kompetenzen in allen Ausbildungs- und Studiengänge der Pflege. „Wer Technik nutzen soll, muss sie auch verstehen und kritisch einordnen können – das gilt für Pflegekräfte genauso wie für Führungspersonal.“
Politisch allerdings, so bemängelt er, wird das Thema noch zu zaghaft angegangen. Es brauche klare Standards für Datensicherheit, verbindliche ethische Leitlinien für den Einsatz von KI und Förderprogramme, die über rein technische Pilotprojekte hinausgehen. Auch die Refinanzierung müsse geregelt sein – bislang bleiben viele Einrichtungen auf Investitionskosten sitzen, weil Förderstrukturen fehlen oder zu bürokratisch sind.
Immerhin: Im Rahmen des Pflege- und Digitalpakts 2024 wurden Mittel für die Entwicklung und Erprobung digitaler Assistenzsysteme bereitgestellt. Mehrere Bundesländer fördern Modellprojekte, und auch das Bundesgesundheitsministerium plant eine „Roadmap Pflegeinnovation“. Doch ob diese Programme über den Projektstatus hinauskommen, ist offen. „Was wir brauchen, ist kein Flickenteppich von Einzellösungen, sondern eine flächendeckende Digitalstrategie für die Pflege“, fordert Mania.
Und was ist mit der immer wieder zitierten „Fitnessuhr“, die Gesundheitsdaten trackt, Schritte zählt, Herzfrequenz und Schlaf analysiert? Für den Pflegewissenschaftler ist das nur ein kleiner Teil der Wahrheit. „Natürlich liefern solche Systeme Daten. Aber die Frage ist, was damit passiert. Wer greift darauf zu? Und wie wird daraus tatsächlich bessere Pflege?“
Die Gefahr bestehe darin, dass Technik zur Kontrolle statt zur Unterstützung wird. Wenn Menschen ihre Pflege nur noch über Messwerte vermittelt bekommen, gehe etwas verloren. „Technik darf nie der Ersatz für Empathie sein – sondern bestenfalls deren Ermöglicher.“
Seine Vision ist eine Pflege, in der Mensch und Maschine kooperieren – sinnvoll, wertschätzend, ergänzend. Pflegekräfte, die durch KI mehr Zeit für persönliche Gespräche haben. Angehörige, die durch digitale Systeme besser eingebunden werden. Pflegebedürftige, die sich sicherer und selbstbestimmter fühlen, weil Technik unaufdringlich mitdenkt.
Und der menschenähnliche Pflegeroboter, der jederzeit zur Verfügung steht, zuhört, anfasst, beruhigt? „Das ist noch weit entfernt“, sagt Mania. „Aber es zeigt, welche Erwartungen an Pflege heute bestehen. Und welchen Beitrag Technik leisten kann – wenn man sie klug einsetzt.“
Tatsächlich zeigt sich in vielen Projekten, dass der Einsatz von KI und Robotik in der Pflege nicht allein eine technische, sondern vor allem eine kulturelle Frage ist. Studien der Hochschule Osnabrück und der Charité Berlin belegen, dass Pflegekräfte digitalen Assistenzsystemen grundsätzlich offen gegenüberstehen – sofern sie nicht das Gefühl haben, dadurch ersetzt oder kontrolliert zu werden. „Akzeptanz hängt stark davon ab, ob Technik als Unterstützung oder als Überwachung wahrgenommen wird“, sagt Mania. „Vertrauen entsteht dann, wenn Pflegekräfte selbst über die Anwendung entscheiden können.“
Auch aufseiten der Pflegebedürftigen gibt es unterschiedliche Erfahrungen. Während viele Menschen mit Demenz oder kognitiven Einschränkungen positiv auf soziale Roboter reagieren, berichten andere über anfängliche Skepsis oder Unsicherheit. Entscheidend ist laut Mania die Einführung: „Wer Technik einfach nur in den Raum stellt, wird keine Wirkung erzielen. Es braucht Aufklärung, Begleitung und eine sensible Anpassung an individuelle Bedürfnisse.“
„Klare Leitlinien sind gefordert“
Ein Beispiel für den praxisnahen Einsatz digitaler Assistenzsysteme fand sich im Modellprojekt „DigiQuartier“, das von Mai 2018 bis August 2021 im Kreis Recklinghausen umgesetzt wurde. Ziel war es, durch den gezielten Einsatz digitaler Technologien die Pflege, das selbstständige Leben im Alter und die Quartiersentwicklung miteinander zu verbinden. In ausgewählten Modellorten wie Herten, Castrop-Rauxel und Dorsten-Wulfen wurden unter anderem sensorbasierte Alltagshelfer, digitale Lernangebote und eine „Bücherei der digitalen Dinge“ eingeführt, in der ältere Menschen Geräte wie Fitnessarmbänder oder smarte Lichtsysteme ausleihen und ausprobieren konnten.
Auch KI-gestützte Anwendungen wurden erprobt – etwa zur Auswertung von Bewegungsmustern oder zur frühzeitigen Erkennung von Gesundheitsveränderungen. Ergänzt wurden diese technischen Elemente durch niedrigschwellige Schulungs- und Beratungsangebote, um digitale Kompetenzen zu fördern und Berührungsängste abzubauen. Das Projekt zeigte: Digitalisierung in der Pflege funktioniert dann besonders gut, wenn sie nicht isoliert gedacht wird, sondern Teil einer sozialraumorientierten Gesamtstrategie ist.
Ein weiteres Beispiel ist das europäische Verbundprojekt „Shapes“, an dem auch deutsche Partner beteiligt sind. Ziel ist es, digitale Plattformen zu entwickeln, die verschiedene Technologien – von Gesundheitsapps bis zu Smarthome-Systemen – miteinander vernetzen. Die Vision: ein digitales Ökosystem, das Pflegeprozesse vereinfacht, individuelle Unterstützung ermöglicht und alle Beteiligten einbindet – Pflegebedürftige, Angehörige, Profis und Dienstleister. Erste Testläufe in Spanien, Irland und Slowenien zeigen: Der Bedarf ist groß – und die Bereitschaft zur Nutzung ebenfalls, sofern Datenschutz und Datensouveränität gewährleistet sind.

Doch genau hier liegt eine der größten Herausforderungen. In Deutschland fehlt bislang eine übergreifende gesetzliche Regelung zum Einsatz von KI in der Pflege. Es gibt kein einheitliches Verfahren zur Zertifizierung digitaler Assistenzsysteme, keine klaren Leitlinien zum Umgang mit personenbezogenen Daten in der Langzeitpflege. Zwar wurde im Rahmen der Digitalstrategie des Bundes ein Ethikrat Pflege eingerichtet, doch konkrete Handlungsempfehlungen lassen auf sich warten.
Heiko Mania sieht darin ein Risiko: „Wenn sich technische Lösungen schneller entwickeln als die politischen Rahmenbedingungen, entsteht eine Grauzone und die bremst viele Einrichtungen aus.“ Eine Lösung könnte ein bundesweites Kompetenzzentrum sein, das Standards definiert, Schulungen organisiert und Anwendungswissen bündelt. Auch die Integration in bestehende Pflegequalitätsrichtlinien wäre ein wichtiger Schritt – um Technik nicht als Sonderlösung, sondern als festen Bestandteil moderner Versorgung zu etablieren.
Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der Finanzierung. Die Anschaffungskosten für robotische Assistenzsysteme liegen häufig im fünfstelligen Bereich. Selbst einfache Sensorlösungen erfordern Investitionen in Infrastruktur, Schulung und Wartung. Förderprogramme auf Landes- oder Bundesebene greifen nur selektiv – oft befristet oder projektgebunden. Mania plädiert daher für ein Finanzierungssystem, das technologische Weiterentwicklung als Teil der pflegerischen Daseinsvorsorge begreift. „Wenn Digitalisierung in der Pflege keine Ausnahme, sondern Regel werden soll, muss sie auch regelhaft finanziert werden.“