Von der Kohleverstromung zur Halbleitertechnik: Der Wandel eines Industriestandortes im Saarland zeigt den Umgang mit der notwendigen Transformation bei gleichzeitig niedrigem Neuflächenverbrauch. Für die Fabrik muss ein Kraftwerk weichen.
Auf dem ehemaligen Kraftwerksgelände in Ensdorf wird die weltweit größte Fabrik für Siliziumkarbid-Halbleiter mit bis zu 1.000 neuen Arbeitsplätzen entstehen. Die vorbereitenden Arbeiten zur Errichtung der Gebäude des US-amerikanischen Unternehmens Wolfspeed laufen auf Hochtouren. Gleiches gilt für die parallel verlaufenden Maßnahmen zum vollständigen Rückbau des Kraftwerks. Im ersten Quartal 2025 soll das einstige Kohlekraftwerk des Energieunternehmens VSE, einer Tochter des Düsseldorfer E.ON-Konzerns, Geschichte sein und endgültig Platz machen für die digitale Zukunft des Saarlandes. Die Ansiedlung von Wolfspeed sei ein Quantensprung in der Transformation dieses Standortes und zeige, dass eine vorausschauende Flächenpolitik essenziell sei, um im internationalen Wettbewerb zu überzeugen, betont der saarländische Wirtschaftsminister Jürgen Barke. Es ist auch ein Musterbeispiel dafür, wie ein ehemaliges Industriegelände – ein sogenanntes Brownfield – für Neuansiedlungen nutzbar gemacht werden kann. Insbesondere Brownfields mit schneller Realisierungsmöglichkeit sind für Unternehmen auf Standortsuche von Interesse. „Auch bereits ansässigen Firmen können wir damit neue Wachstumsmöglichkeiten anbieten“, so Barke weiter.
Brownfields sind attraktive Standorte
Doch eine Revitalisierung eines Brownfields mit einem ehemaligen Kohlekraftwerk ist keine triviale Angelegenheit. Im Gegenteil: Der Rückbau des Kraftwerks gilt als eine sehr anspruchsvolle ingenieurtechnische Herausforderung, braucht erfahrene Partner und nimmt vor allem Zeit in Anspruch. „Eine sorgfältige Vorbereitung und detaillierte Planung sowie eine gute Zusammenarbeit aller Beteiligten für die Umsetzung sind absolut notwendig“, betont Prokurist Stephan Dolata von Arcadis, einem spezialisierten internationalen Beratungs- und Planungsunternehmen, das nach einem intensiven Auswahlprozess im Auftrag des Bauherrn VSE als Generalunternehmer tätig ist. Arcadis trägt die Gesamtverantwortung für die Ausführung und im Detail für die Planung, Überwachung und Dokumentation, das Unternehmen Johannes Landwehr ist das Abbruchunternehmen.
Ingenieurtechnische Herausforderung
Seit die letzte Kilowattstunde Strom in Ensdorf erzeugt wurde, ist viel Zeit vergangen. Ab Ende 2017 mussten zunächst die technischen Anlagen des Kraftwerks in einen sicheren Betrieb überführt werden. Das fängt an bei der Stromabschaltung an vielen Stellen im Kraftwerk über die Entfernung aller brennbaren Stoffe bis hin zur Sicherung des gesamten Werksgeländes. Über allem steht immer der Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz, ganz gleich, welche Arbeiten bei der Stilllegung und dem Rückbau anfallen. „Man kann sich sicherlich vorstellen, welche Herausforderung es ist, wenn eine rund 60 Jahre lang betriebene großtechnische Anlage wie das Kohlekraftwerk Ensdorf mit drei Blöcken zurückgebaut werden soll“, erklärt Kraftwerksdirektor Dr. Klaus Blug, der den Rückbau seitens VSE managt. Bevor überhaupt irgendein Werkzeug beim Rückbau zum Einsatz kommt, müssen Zustand der Gebäude und Anlagen sowie alle möglichen Risiken wie mögliche Belastungen durch Schad- oder Gefahrstoffe benannt sein. Das alles fein säuberlich aufzulisten anhand von Unterlagen und Proben und vorher zu erstellenden Gutachten, ist Grundlage dafür, überhaupt Kosten und Zeitplan des Rückbaus festlegen zu können und die Risiken für alle Beteiligten zu minimieren. Das ist schon deshalb wichtig, um besser gegen unliebsame Überraschungen gewappnet zu sein, etwa die Entdeckung einer Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg – was im Saarland aufgrund seiner Historie als Schwerindustriestandort nicht unwahrscheinlich ist –, das Vorhandensein schützenswerter Tiere oder das Auffinden historisch bedeutsamer Funde tief im Boden. „Historische Erkundung“ nennt das Arcadis.
Doch es sind gar nicht so sehr die technischen Anforderungen. „Die haben wir schon aufgrund unserer jahrzehntelangen Erfahrung im Griff“, so Stephan Dolata. Die größte Herausforderung bei der Sanierung von Brownfields bestehe meist darin, „zwischen allen Beteiligten, sprich dem Bauherrn, den involvierten Baufirmen und Behörden sowie uns als Beratungs- und Planungsunternehmen, Verständnis füreinander und damit Vertrauen zu entwickeln“. Transparenz wie die frühzeitige Einbindung zuständiger Behörden und der Öffentlichkeit stehen an oberster Stelle in diesem Prozess. „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Die gesetzeskonforme Umsetzung ist wichtiger als das schnelle Geld oder im übertragenen Sinne der schnelle Verkauf eines Standortes. Reputation ist Verpflichtung. Von diesen Prämissen versuchen wir, die Beteiligten schon im Vorfeld zu überzeugen“, sagt Dolata.
Bereits Ende 2019 wurde mithilfe von Arcadis mit dem Erstellen des Rückbaukonzepts begonnen und dieses anschließend beim Landesamt für Umweltschutz als zuständige Behörde eingereicht. Dort kommentieren alle relevanten zuständigen Stellen – beispielsweise für Wasser, Umwelt, Lärm, Boden, Kreislaufwirtschaft – das vorgelegte Konzept. Die Kommentare fließen in eine behördliche rechtsverbindliche Anordnung ein, die Bestandteil der Ausschreibung ist. Dort ist dann alles festgelegt: Lärmkontingente, Arbeitszeiten auf der Baustelle, verbindliche Informationen an die Öffentlichkeit, das Einrichten einer Beschwerdestelle und vieles mehr.
Offiziell gestartet sind die Rückbauarbeiten im Februar dieses Jahres, seitdem geht es zügig voran. „Wir liegen bei diesem Projekt voll im Zeitplan, und ich gehe davon aus, dass das bis zum Abschluss der Maßnahmen so bleiben wird“, zeigt sich Stephan Dolata überzeugt. Auf dem Gelände des Kraftwerks gibt es zurzeit drei Baustellen in einer: Die Terrassierungs- und Erdarbeiten auf der Südfläche, wo die Gebäude von Wolfspeed errichtet werden, die Erweiterungs- und Ertüchtigungsarbeiten des Übertragungsnetzbetreibers Amprion sowie die Rückbauarbeiten.
„Keine negativen Ereignisse“
Alle Stoffe, die beim selektiven Rückbau anfallen, werden soweit möglich einer Wiederverwertung zugeführt. So fallen zum Beispiel jede Menge verschiedene Stähle an wie Konstruktionsstahl oder höherwertige Edelstähle. Hinzu kommen Sondermaterialien wie Nickel oder eine große Menge Kabelschrott. „Alles, was beim Abbruch der Gebäude zu separieren ist, wird auch separiert“, sagt Projektingenieurin Janina Fries von Arcadis. „Wenn es um mögliche Schadstoffe in alten Kraftwerken geht, denken viele an Asbest, doch dieser Stoff wurde in den meisten Fällen bereits in den 90er und Nuller Jahren weitgehend saniert. Heute ist es primär Mineralwolle, die eigens separiert und entsorgt werden muss, so wie im Kraftwerk Ensdorf.“ So wurden beispielsweise die Fassadenplatten der Entstickungsanlagen per Arbeitshubbühne beziehungsweise mittels Fahrkörben an Großgeräten vorab demontiert und die Dämmstoffe entfernt. Die Rohrdämmungen im Gebäude wurden sogar händisch freigelegt und separiert. Was unbelastetes Beton- und Mauerwerk angeht, so besteht die Möglichkeit, dieses Material aufgrund seiner hohen Qualität für die Vorbereitung des Geländes und für spätere Baumaßnahmen gesetzeskonform zu nutzen. Altfundamente und Kellereinbauten bis ein Meter Tiefe werden entfernt, damit das Verlegen neuer Leitungen später kein Problem darstellt. Außerdem werden verbliebene Altfundamente vermessen. Alles wird fein säuberlich und transparent dokumentiert.
Alle in Ensdorf durchgeführten Arbeiten unterliegen der permanenten artenschutzrechtlichen Überprüfung. So wurde beispielsweise eine Drohnenbefliegung zur Brutkontrolle beziehungsweise zur Sicherstellung, dass das Falkennest nicht mehr bebrütet wird, durchgeführt. Relevante Gebäudeöffnungen werden sofern notwendig vorab verschlossen, damit sich keine Fledermäuse oder andere geschützte Arten zum Nisten niederlassen. Des Weiteren wurden Untersuchungen durchgeführt, ob es auf dem ehemaligen Kohlefeld schützenswerte Tiere gibt, was sich allerdings nicht bestätigt hat. „Wir stehen im Austausch mit allen Trägern öffentlicher Belange. Bisher hat es keine negativen Ereignisse auf dem Gelände gegeben. Es gab weder Beschwerden noch Arbeits- oder umweltrelevante Unfälle“, so Janina Fries.
Der wohl für die Bevölkerung spektakulärste Akt steht bald bevor: Eine erste sprengtechnische Niederlegung des Kühlturms und des Kamins von Block 3 ist für den Spätherbst vorgesehen. Über den genauen Termin wird rechtzeitig informiert.