Seit Sommer steht Oliver Ruhnert bei Union wieder in der zweiten Reihe. Zum Jahreswechsel verlässt er den Club ganz. In der Fußballsprache ausgedrückt: Ruhnert wechselt auf Leihbasis mit Kaufoption in die Politik.
Für diesen Wechsel gab es keinen Transfermarkt: Oliver Ruhnert lässt seine Arbeit als Chefscout beim 1. FC Union Berlin zum Jahresende ruhen, um sich komplett auf seine Politik-Karriere zu konzentrieren. Ruhnert, dem ein großer Anteil am Aufstieg der Unioner von einem Zweitliga- zu einem zwischenzeitlichen Champions-League-Club attestiert wird, will bei der kommenden Bundestagswahl als Spitzenkandidat der Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ auf der Berliner Landesliste kandidieren. „Ab Januar wird er sich vollumfänglich den Wahlkampfaktivitäten für die voraussichtlich am 23. Februar 2025 stattfindende Bundestagswahl widmen“, heißt es in einer Vereinsmitteilung. Diese war nur schmale vier Zeilen lang und nahezu emotionslos. Ohne Dank für die bislang geleisteten Dienste oder wenigstens einen nüchtern ausgedrückten Erfolgswunsch für die anstehenden neuen Aufgaben. Nichts dergleichen.
Das klang im Mai noch ganz anders, als Ruhnert – offiziell freiwillig – vom Posten des Sport-Geschäftsführers wieder ins zweite Glied gerückt war. „Ich bin glücklich, dass wir auch weiterhin auf ihn zählen können“, wurde Vereinspräsident Dirk Zingler damals in der Pressemitteilung zitiert, „und freue mich auf die Zusammenarbeit mit Horst Heldt und ihm.“ Mit dem neuen starken Mann in der sportlichen Führung sprach sich Ruhnert eng ab, auch was die frühen Saison-Transfers wie die von Ivan Prtajin oder auch Laszlo Benes betrafen. Doch spätestens mit der Ankunft von Heldt und dem neuen Trainer Bo Svensson wurde es ruhig um Ruhnert. Seine Sätze in der Pressemitteilung zur personellen Umstrukturierung klangen schon damals wie Abschiedsworte. Er blicke „mit großem Stolz auf die letzten sieben Jahre zurück“, in denen man „mit vereinten Kräften ungeahnte Erfolge errungen“ habe. Es sei eine Zeit, „die ich niemals missen möchte“, die aber auch „sehr viel Kraft gekostet“ habe, sagte der 53-Jährige.
Spitzenkandidat BSW Berlin
Nach sechs Jahren an vorderster Front arbeitete Ruhnert seit Sommer wieder als Chefscout. Diesen Job hatte er 2017 nach seinem Wechsel von Schalke 04, wo er Direktor der Nachwuchsabteilung „Knappenschmiede“ war, angenommen. Schnell stieg der Sauerländer aber zum Sportchef auf, mit der Verpflichtung von Urs Fischer als Trainer gelang ihm auf Anhieb ein Coup. Das Duo Ruhnert/Fischer führte Union erst in die Bundesliga und später sogar in die Champions League. Vor allem Ruhnerts Glücksgriffe auf dem Transfermarkt wurden ligaweit bewundert. Zu nennen wären da vor allem die ablösefreien Wechsel von Mittelfeld-Stabilisator Rani Khedira, Offensivstar Sheraldo Becker, Torjäger Max Kruse und Innenverteidiger Danilho Doekhi. Aber auch die Leihe und der anschließende Neun-Millionen-Euro-Rekordtransfer von Taiwo Awoniyi waren ein Meisterstück: Der nigerianische Angreifer wurde später für 20,5 Millionen Euro nach England an Nottingham Forest verkauft. Bis heute die Rekord-Transfereinnahme des Clubs.
Doch in der Vorsaison waren Ruhnert und Fischer vom Glück verlassen. Der Trainer musste bereits im vergangenen Herbst gehen, Ruhnert machte am Saisonende Platz für einen Neuanfang in der Sportführung. An der Aufgabe, einen Champions-League-Kader zu formen, der hungrig und homogen bleibt, war Ruhnert gescheitert. Die nur auf dem Papier spektakuläre Verpflichtung vom italienischen Altmeister Leonardo Bonucci steht symbolisch für die insgesamt missratene Transferbilanz in Ruhnerts letztem Jahr als Sportchef. Auch Nationalspieler Robin Gosens zündete nicht wie erhofft und verließ Union schon nach einer Saison wieder Richtung Italien. Auch in der vergangenen Winter-Transferperiode bewies Ruhnert mit Flops wie Zwei-Millionen-Euro-Stürmer Chris Bedia kein glückliches Händchen, der Beinahe-Abstieg trug auch seine Handschrift. Der Neuanfang auf dem Geschäftsführer-Posten dürfte auch darin begründet gewesen sein.
Dennoch büßte Ruhnert natürlich nicht komplett an Reputation ein, innerhalb der Szene ist seine Fachkenntnis weiter hoch angesehen. Immer wieder gab es zum Beispiel Spekulationen um eine Rückkehr zum FC Schalke 04, der Zweitligist sucht aktuell nach einem Sportdirektor oder gar Sportvorstand. Ruhnert, der gehörigen Anteil am exzellenten Ruf von Schalkes Knappenschmiede hat, bat 2017 um eine Vertragsauflösung und wechselte kurze Zeit später zu Union.
Hinter vorgehaltener Hand wurde von einem getrübten Verhältnis zum damaligen Sportvorstand Christian Heidel gemunkelt. Ruhnerts Herz hängt nach wie vor an Schalke, die seit einigen Jahren andauernde Krise lässt ihn nicht kalt. „Wenn man die Menschen kennt, die hinter diesem Club stehen, dann leiden die. Das geht mir als Mitglied auch so“, sagte er. Doch er wird nicht Schalkes neuer „Messias“. Ruhnert will sich in die Politik verabschieden.
Konfliktpotenzial mit dem DFB
Er merke, „dass das tägliche Leben der Bürger sehr schwierig“ geworden sei, begründete Ruhnert seinen Entschluss im RBB. Schon länger engagiert er sich als Lokalpolitiker in seiner westfälischen Heimat, doch in der Kommunalarbeit lasse sich nur wenig bewegen. „Gerade jetzt, wo die sozialen Unterschiede immer größer werden und wo es um elementare Themen geht wie Krieg und Frieden, ist dieser Schritt erfolgt“, erklärte Ruhnert. Ermutigt habe ihn Partei-Chefin Sahra Wagenknecht persönlich. Sie hatte Ruhnert zuvor schon öffentlich in einem „Spiegel“-Interview als „einen Topmann“ bezeichnet: „Er weiß, wie man in die Bundesliga aufsteigt, sich dort durchsetzt und mit den großen, vermeintlich übermächtigen Gegnern anlegt.“
In der Tat scheute Ruhnert während seiner Amtszeit bei Union nicht den Konflikt mit den ganz Großen der Szene. Den damaligen Bundestrainer Hansi Flick kritisierte er im Juni 2023 für dessen Nominierungskriterien vergleichsweise scharf. Seine Kernaussage: Es wird nicht nach Leistung nominiert. Mit diesem Vorwurf konfrontiert, konterte Flick mindestens ebenso hart. Diese Behauptung sei „eine große Dreistigkeit“, sagte Flick auf Ruhnerts Meinung angesprochen. Die Art und Weise kam beim Deutschen Fußball-Bund nicht gut an, dabei galt Ruhnert zwischenzeitlich auch als Kandidat beim DFB für den zweiten Direktor-Posten neben Rudi Völler. Das hatte dem Manager geschmeichelt: „Natürlich kann ich mir das vorstellen. Es würde mir sogar Spaß machen, gewisse Dinge anzugehen, denn der DFB hat keine Entscheider.“
Doch dazu kam es nicht, und auch die Karriere als Club-Manager dürfte bald vorbei sein – oder zumindest für längere Zeit unterbrochen. Angesichts der aktuellen BSW-Umfragewerte in Berlin und seiner Popularität in der Hauptstadt dürfte Ruhnert sehr wahrscheinlich den Sprung in den Bundestag schaffen. Dann würde der bei Union ab Januar ruhende Vertrag endgültig aufgelöst. Als seine politischen Schwerpunkte sieht er die Bereiche Inneres und Soziales, der Sport fällt auch in diese Kategorie. Doch dann geht es für Ruhnert hauptsächlich um den Breitensport und nicht mehr um Millionen-Transfers. Den täglichen Stress der Bundesliga wird er nicht vermissen. „Mit diesem Job gehst du schlafen und du stehst damit auf“, berichtete Ruhnert einmal: „Wenn ich merke, dass der Akku aufgebraucht ist, dann muss ich etwas anderes machen.“ Die Zeit scheint jetzt gekommen zu sein.