Mit ihrem fulminanten Sieg bei den Bundestagswahlen am 27. September 1998 beendeten die neuen Regierungsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen die 16 Jahre dauernde Amtszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl. Zu dessen Nachfolger wurde vier Wochen später Gerhard Schröder gewählt, der 40,9 Prozent der Wählerstimmen für seine Partei holte.
bei sehr hohen 82,2 Prozent - Foto: picture-alliance / dpa
Mit dem einige Monate zuvor von Bayern-Trainer Giovanni Trapattoni geprägten und in den deutschen Zitatenschatz aufgenommenen Satz „Ich habe fertig“ unter dem Konterfei von Kanzler Helmut Kohl auf einem ihrer Werbeplakate hatte die SPD den Ausgang der Bundestagswahl frühzeitig vorweggenommen. Nach 16 Regierungsjahren des inzwischen 68-jährigen Pfälzer Urgesteins hatte sich im Lande eine politische Wechselstimmung verbreitet. Die hatte sich vor der am 27. September 1998 anstehenden Wahl zum 14. Bundestag bereits in den Prognosen niedergeschlagen. Dort lagen der 54-jährige Herausforderer Gerhard Schröder und seine SPD regelmäßig vor den Unionsparteien – mal mit mehr, mal mit weniger Abstand.
Allein das Abschneiden von Bündnis 90/Die Grünen sorgte bis zuletzt für Hochspannung. Grund für die Unsicherheit war ein Beschluss der Grünen auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz Anfang März 1998, den Preis für einen Liter Benzin zum Wohle der Umwelt schrittweise auf fünf D-Mark anheben zu wollen. Das kam bei den Wählern nicht sonderlich gut an und gefährdete einen gemeinsamen Wahlerfolg mit der SPD. Diese hatte die Grünen ausdrücklich zum präferierten Koalitionspartner erklärt. Ob es letztlich für eine rot-grüne Mehrheit und damit für eine historische Zäsur im Parlament reichen würde, war aber auch vom Abschneiden der beiden anderen bislang im Bundestag vertretenen Parteien – der von Wolfgang Gerhardt als treuer Junior-Partner von CDU/CSU geleiteten FDP und der PDS – abhängig.
Erstmals Rot-Grün auf Bundesebene
Der Wahlausgang war letztlich in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches geschichtliches Ereignis und ein Einschnitt in der deutschen Parlamentshistorie. Nicht nur, weil der Urnengang der letzte auf der Bonner Bühne vor dem Umzug nach Berlin und zugleich der letzte vor dem Start in die europäische Wirtschafts- und Währungsunion mit der Einführung des Euro sein sollte: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gelang es der Opposition 1998, die Regierung direkt über Wahlen abzulösen. 1969 und 1982 war dafür jeweils ein Koalitionswechsel verantwortlich gewesen. Zudem wurde erstmals – und bislang zum einzigen Mal – durch das Votum der Wähler ein kompletter Machtwechsel herbeigeführt, denn keiner der bisherigen Regierungspartner war mehr an der neuen Regierung beteiligt. Erstmals regierte auf Bundesebene eine rot-grüne Koalition. Die SPD unter ihrem Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder holte 40,9 Prozent und war damit klarer Wahlsieger. In seiner unnachahmlichen Art machte Schröder dem kleineren Partner, der auf 6,7 Prozent gekommen war, von vornherein die Kräfteverhältnisse klar: „In einer rot-grünen Koalition muss klar sein: Der Größere ist Koch, der Kleinere ist Kellner.“
Die größte Überraschung der Wahl war nicht so sehr das Triumph-Ergebnis für die SPD, die auch dank einer hohen Wahlbeteiligung von 82,2 Prozent als erste Partei überhaupt mehr als 20 Millionen Wählerstimmen erhielt. Ergebnisse jenseits der 40 Prozent waren für die Genossen in der Vergangenheit nichts gänzlich Ungewöhnliches, zwischen 1969 und 1980 bei vier aufeinander folgenden Bundestagswahlen vielmehr die Regel gewesen – mit der „Willy-Wahl“ von 1972 und sagenhaften 45,8 Prozent als einsamem Höhepunkt. 1998 konnte die SPD mit einem Zuwachs von 4,5 Prozent nach einer etwas längeren Durststrecke die 40 Prozent abermals überschreiten und sich zum ersten Mal seit 1972 wieder zur stärksten Bundestagsfraktion aufschwingen.
Die eigentliche Sensation war aber das schwache Abschneiden der Unionsparteien, vor allem der CDU, die es nach einem Stimmenverlust von 6,3 Prozent auf nur noch 35,1 Prozent geschafft hatten und damit den schlechtesten Wert seit dem Jahr 1949 mit seinerzeit 31,0 Prozent verkraften mussten. Im Vergleich zur jüngsten Bundestagswahl 2021, als die Union mit 24,1 Prozent das mit Abstand schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte hinnehmen musste, mag dies weniger schlimm erscheinen. Doch während der Rückstand zur SPD 2021 lediglich 1,6 Prozent betrug, lag er 1998 aus Unionssicht bei geradezu niederschmetternden 5,8 Prozentpunkten. Niemals davor oder danach schaffte die SPD einen solch großen Vorsprung vor der Union. Die Bundesbürger hatten die Union und speziell Kanzler Helmut Kohl 1998 regelrecht abgewatscht – und abgewählt.
Der rot-grüne Koalitionsvertrag wurde in Rekordzeit von zwei Wochen ausgehandelt. Am 27. Oktober 1998 wurde Gerhard Schröder mit 351 von 669 abgegebenen gültigen Stimmen zum neuen Bundeskanzler gewählt. Noch am gleichen Tag wurde die erste rot-grüne Bundesregierung gebildet, mit Joschka Fischer von den Grünen als Außenminister und SPD-Parteichef Oskar Lafontaine als Vizekanzler und Finanzminister.
Natürlich gab es für den Ausgang der Wahl und die rot-grüne Zeitenwende viele Gründe. Vorrangig dürfte vor allem gewesen sein, dass die Bundesbürger das Vertrauen in die alte Regierung schlicht verloren hatten. Sie trauten der Union unter dem zunehmend behäbig und altbacken wirkenden Kanzler Helmut Kohl nicht mehr zu, die drängendsten Probleme der Zeit – die wachsende Massenarbeitslosigkeit vor allem in den ostdeutschen Ländern – und die dringend für die Zukunft nötigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen bewältigen zu können.
Zu lange an Helmut Kohl festgehalten
Die deutsche Wirtschaft hatte angemahnt, die aus ihrer Sicht zu hohen Lohnnebenkosten zu senken, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Als die Kohl-Regierung nach jahrelangem „Aussitzen“ endlich doch noch Anfang 1998 den Entwurf einer großen Steuerreform vorgelegt hatte, die die Senkung von Einkommenssteuer und Lohnnebenkosten vorsah, ließ die SPD in Gestalt von Parteichef Oskar Lafontaine keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie der Regierung vor der Wahl keinerlei Chance zu einem Prestigeerfolg ermöglichen würde. Mit ihrer Übermacht im Bundesrat konnte die SPD alles blockieren. Die Regierung Kohl stand gewissermaßen mit dem Rücken zur Wand und konnte den „Reformstau“, der 1997 sogar schon zum Wort des Jahres gewählt worden war, nicht mehr beseitigen.
Der größte Fehler der Union dürfte aber das Festhalten an Helmut Kohl gewesen sein, der seinen Bonus als „Kanzler der Einheit“ längst eingebüßt hatte. Selbst in den eigenen Reihen war er längst nicht mehr unumstritten. In seiner langen Regierungszeit hatte Kohl zuvor bereits vier SPD-Kanzlerkandidaten geschlagen. Voller Zuversicht hatte er sich selbst am Tag seines 67. Geburtstages zum neuerlichen Unions-Kanzlerkandidaten deklariert und wenig später in einer einsamen Entscheidung Fraktionschef Wolfgang Schäuble zum Kronprinzen ab dem Jahr 2002 ernannt. Das kam auch intern nicht überall gut an.
Wer bei der Bundestagswahl sein Gegenspieler auf SPD-Seite sein würde, war bis Anfang 1998 noch völlig offen. Die SPD hatte aus früheren Fehlern gelernt und parteiinterne Zwistigkeiten um die Spitzenposition vermieden. Nach dem gloriosen SPD-Wahlsieg von Ministerpräsident Gerhard Schröder bei den niedersächsischen Landtagswahlen am 1. März 1998 mit stolzen 47,9 Prozent verzichtete Oskar Lafontaine freiwillig zugunsten seines erfolgreichen Kollegen. Schröder wurde eher dem rechten, wirtschaftsfreundlichen Flügel der Partei zugerechnet. Zudem genoss er in der deutschen Öffentlichkeit wegen seines Images als „Macher“ und „Gewinner“ deutlich höhere Popularitätswerte. Daher wurden ihm auch innerhalb der SPD bei der anstehenden Bundestagswahl deutlich größere Siegeschancen eingeräumt als dem für traditionelle linke Werte wie soziale Gerechtigkeit eintretenden Parteichef Lafontaine. Ein Kanzlerkandidat Schröder bot der Union damit auch wesentlich weniger Angriffsfläche, auch wenn diese dennoch vergeblich den Versuch unternahm, die auf die beiden Persönlichkeiten Kohl und Schröder zugespitzte Auseinandersetzung auch zu einer Richtungswahl mit der Warnung vor einem politischen Linksruck der Gesellschaft zu stilisieren. Schröder focht das alles nicht an. Er kam dynamisch rüber, setzte vor allem auf Wirtschaftskompetenz und Reformbereitschaft.
Modernerer Wahlkampf der SPD
Als genialer Kniff erwies sich das Wiederaufgreifen des Schlagworts der „neuen Mitte“, mit dem die SPD schon 1972 ihren größten Erfolg im Kampf um neue Wählerschichten errungen hatte. Schröder versprach eine Modernisierung der Gesellschaft und eine Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Sein Credo lautete: „Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen.“ Damit schienen sich die Bundesbürger deutlich mehr identifizieren zu können als mit dem auf Kohl gemünzten CDU-Wahlkampfslogan „Weltklasse für Deutschland“. Überhaupt war die an den siegreichen Vorbildern von Bill Clinton und Tony Blair orientierte und von den meisten deutschen Massenmedien wohlwollend begleitete Wahlkampforganisation der SPD namens „Kampa ’98“, die „Innovation und Gerechtigkeit“ als Kernthemen setzte und Schröder auf Plakaten immer wieder mit dem Slogan „Ich bin bereit“ präsentierte, wesentlich fortschrittlicher als die vergleichbaren Unionsstellen.