Standards, Umschaltspiel, Kompaktheit: Union Berlin muss in der Länderspielpause an vielen Dingen arbeiten. Das größte Problem aber, die Verunsicherung, ist nur mit Erfolgserlebnissen zu beheben.
Selten hat Union Berlin ein Unentschieden so gefeiert wie dieses. Das 1:1 in der Champions League beim italienischen Meister SSC Neapel war in gewisser Weise ein historischer Erfolg für den Club, denn es markierte den ersten Punkt der Vereinsgeschichte in der Königsklasse. Doch deswegen allein war die Freude nicht so groß. Viel wichtiger war den Protagonisten, dass die Horror-Serie von zwölf Pflichtspiel-Pleiten in Folge ein Ende hatte. „Ja, was soll ich sagen?“, meinte Trainer Urs Fischer lächelnd, ehe ihm ein erleichtertes „Endlich!“ entfuhr und er anfügte: „Eine Serie ist zumindest gestrichen.“ Der Schweizer erhoffte sich noch im Stadio Diego Armando Maradona eine Initialzündung für die Fußball-Bundesliga, wo es nach einem Drittel der Saison nur noch um den Klassenerhalt geht. „Wenn du zwölfmal am Stück verlierst“, erklärte Fischer, „hast du einfach nicht die Leichtigkeit, nicht das nötige Selbstvertrauen“.
4:0-Klatsche gegen Bayer Leverkusen
Auch Nationalspieler Robin Gosens blickte nach dem kleinen Erfolgserlebnis wieder positiver in die Zukunft. „Wir haben gelitten, aber das war ein guter Start und ein wichtiger Punkt für die Moral“, sagte der Linksfuß. Sein Kapitän Christopher Trimmel meinte, der unerwartete Punkt gegen Italiens Spitzenteam könne „sehr viel“ mit der Mannschaft machen – doch der Österreicher warnte auch: „Ich kenne den Fußball gut genug. Wir müssen jetzt ganz hart arbeiten.“ Wie recht Trimmel hatte, zeigte sich vier Tage später im Ligaalltag: Das zarte Pflänzchen Hoffnung wurde von Spitzenreiter Bayer Leverkusen mit einer Dampfwalze zerstört. Mit 4:0 schossen die Rheinländer die Berliner aus der eigenen Arena, Union war komplett chancenlos. Die letzten Minuten verfolgte Fischer mit trister Miene und verschränkten Armen auf der Bank sitzend, Impulse gab es von der Seitenlinie kaum noch. Es war schlicht ausweglos.
„Sehr deutlich“ sei der Leistungsunterschied gewesen, gab Kapitän Trimmel hinterher zu: „Leverkusen war einfach viel zu stark für uns.“ Eine Niederlage beim Topclub – gerade in der aktuellen Krise – sei zwar keine Schande, „aber die Art und Weise ist wichtig. Und die war nicht ideal“, kritisierte Trimmel. Man habe in der ersten Halbzeit „überhaupt keinen Zugriff“ auf die Bayer-Offensivstars um Victor Boniface und Florian Wirtz gehabt, „und nach zwei Standard-Gegentoren war die Geschichte fertig“, sagte der Österreicher: „Beide waren absolut zu verteidigen.“ Die Stärke bei ruhenden Bällen – einer der Schlüssel für Unions Höhenflug der vergangenen Jahre – ist plötzlich ein wichtiger Grund für den Absturz. „Was die früher einfach so wegverteidigt haben, da hatte man sich keine Sorgen gemacht, dass da irgendwas passiert“, sagte der frühere Nationalspieler und heutige DAZN-Experte Tim Borowski: „Da sind sie dieses Jahr einfach nicht gut. So nimmst du dich immer wieder einfach aus dem Spiel.“
Aber nicht nur bei den Standards passt es aktuell nicht, auch beim Umschaltspiel läuft nur wenig zusammen. Zudem sind die Lücken im Abwehrverbund teilweise viel zu groß, auch das ist alles andere als Union-like. Zudem strahlt Torhüter Frederik Rönnow nicht mehr die Sicherheit aus, die seine Vorderleute momentan so dringend benötigen. Unterschätzen einige Spieler noch immer die Lage? Nein, meinte Trimmel: „Wir haben viel gesprochen die letzten Wochen.“ In der Länderspielpause wolle man sich „in allen Bereichen verbessern“, sagte Trimmel, „sonst wird es mit dem Klassenerhalt ganz schwierig“. Fischer kündigte an, „an den Abläufen und an der Kompaktheit weiter zu arbeiten“ – und sein Team zu einer Video-Besprechung zu bitten. Er wolle gewisse Dinge aus dem Leverkusen-Spiel „deutlich ansprechen“, denn: „Wenn du im Abstiegskampf bist, braucht es eine andere Körpersprache und eine andere Mentalität“.
Im nächsten Ligaspiel am 25. November zu Hause gegen den FC Augsburg ist ein Sieg fast schon Pflicht. Das Problem aber ist: Unter dem neuen Trainer Jess Thorup hat sich Augsburg erheblich stabilisiert und seit vier Spielen nicht mehr verloren. Das jüngste 1:1 gegen Europapokal-Aspirant TSG Hoffenheim war ein Achtungszeichen. „Zwei Siege, zwei Unentschieden, acht Punkte – ich bin zufrieden“, sagte Thorup. Der Däne habe dem Team neues Leben eingehaucht, meinte Sportdirektor Marinko Jurendić: „Die Mannschaft ist deutlich stabiler. Sie kann auch mal Widerstände aushalten. Das ist ein Verdienst der letzten vier Wochen.“
Einen neuen Impuls durch einen Trainerwechsel schlossen die Verantwortlichen von Union Berlin zuletzt aber vehement aus. Dass die Lage nicht aussichtslos ist, zeigte das Erfolgserlebnis in der Champions League. Dass Union durch das Unentschieden keine Chance mehr aufs Achtelfinale hat, war hinterher komplett nebensächlich. Mit dem Erreichen der K.o.-Phase bei der Premierensaison in der Königsklasse hatte intern angesichts der starken Gruppengegner ohnehin keiner gerechnet. Allerdings haben die Berliner immer noch die Chance, Dritter der Gruppe zu werden und damit immerhin in der Europa League zu überwintern. „Vielleicht kann der Punkt in der Endabrechnung noch sehr wichtig sein“, sagte Fischer mit Blick auf den nur um zwei Zähler besseren Konkurrenten Sporting Braga.
„Vielleicht noch etwas zu verspielt“
Dass Union weiterhin im Rennen um Platz drei ist, ist Torschütze David Fofana zu verdanken. Ausgerechnet Fofana! Der Leihspieler vom englischen Topclub FC Chelsea hatte zuvor mit einem verweigerten Handschlag mit Fischer für Wirbel gesorgt. Diese Undiszipliniertheit hatte ihm eine Suspendierung für zwei Spiele eingebrockt. Der Vorfall rief aber keinen Riss zwischen Spieler und Trainer hervor, das zeigte zuerst Fofanas öffentliche Entschuldigung („All dies ist aus Frustration entstanden“) und dann Fischers Startelf-Nominierungen gegen Eintracht Frankfurt (0:3) und in Neapel. Er habe die Entschuldigung akzeptiert, sagte Fischer. Menschlich werde nichts hängen bleiben von dem Vorfall, und sportlich ist der junge Angreifer ohnehin zu wichtig, als dass der Trainer ihn unberücksichtigt lassen könnte. „Er hat gezeigt, was er draufhat“, sagte Fischer: „In der ersten Halbzeit war er vielleicht noch etwas zu verspielt, etwas zu eigensinnig, in der zweiten Halbzeit dann klarer.“ Diese Zielstrebigkeit und noch mehr Konstanz wünscht er sich von Fofana. Dann könne dieser „ein wichtiger Spieler für uns sein“.
Mit Genugtuung dürfte auch Leonardo Bonucci seine italienische Heimat wieder verlassen haben. Der Abwehrrecke, der jahrelang erfolgreich für Neapels Ligakonkurrent Juventus Turin seine Knochen hingehalten hatte, wurde von den SSC-Fans im Stadio Diego Armando Maradona mit einem Pfeifkonzert und einem wenig schmeichelhaften Plakat empfangen. „Leonardo da Perdi“ (Leonardo, der Verlierer) – stand auf dem Plakat in Anspielung an den Künstler Leonardo da Vinci geschrieben. Von den Schmähungen ließ sich der 36-Jährige aber nicht beirren, als zentraler Mann in der Dreier-Abwehr-Kette verteidigte und organisierte der Europameister von 2021 wie in besten Zeiten. Doch auch der Routinier warnte nach dem kleinen Erfolgserlebnis vor jeglichem Anflug von Selbstzufriedenheit: „Wir dürfen uns jetzt nicht zufriedengeben!“ Nach dem 0:4 in Leverkusen dürfte das keine Rolle mehr spielen.